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Der Nahe Osten, Südasien und die Türkei bei den Olympischen Spielen

Das war Spitze

Feature
Der Nahe Osten, Südasien und die Türkei bei den Olympischen Spielen

Athleten, vor allem aber Athletinnen aus dem Nahen Osten sorgten bei den Spielen von Paris für Schlagzeilen – nicht nur sportlicher Natur. Eine Auswahl von olympischen Erfolgen für die Region und warum eine Klasse von Sportarten besonders im Kommen ist.

Pakistan und Indien: Ein großer Wurf für die Sportdiplomatie

Speerwerfen war schon im 8. Jahrhundert vor Christus Bestandteil des olympischen Programms, dennoch steht die Disziplin auch bei den Spielen der Neuzeit selten im Rampenlicht. Aber diesmal dürfte kaum ein anderes Leichtathletik-Event der Pariser Sommerspiele derart hohe Einschaltquoten verzeichnet haben, denn: Der halbe Subkontinent verfolgte gebannt ein emotionales Zusammentreffen zweier Wettkämpfer, die sowohl für eine erbitterte Rivalität als auch für ein gemeinsames Erbe stehen.

 

Arshad Nadeem aus Pakistan lieferte sich am Freitagabend im Stade de France ein packendes Duell mit Titelverteidiger Neeraj Chopra aus Indien – und das auf allerhöchstem Niveau. Der 27-Jährige Nadeem ließ seinen Speer 92,07 Meter weit fliegen und sicherte sich nicht nur Gold, sondern stellte zugleich einen neuen Olympischen Rekord auf. Chopra landete dicht dahinter auf Platz Zwei.

 

Nadeem stammt aus dem kleinen Dorf Mian Channu im Punjab. Dass er überhaupt regelmäßig trainieren kann, um international konkurrenzfähig zu sein und an Turnieren im Ausland teilnehmen kann, ist auch der gemeinsamen Anstrengungen seiner Heimatgemeinde zu verdanken. Denn die Infrastruktur für Leistungssport außerhalb des allgegenwärtigen Cricket sind in Pakistan kaum vorhanden. Immerhin, so erklärten sich pakistanische User im Netz den unerwarteten Erfolg, komme Nadeem die Wurferfahrung im Cricket zugute.

 

Auch wenn die südasiatischen Nationen, insbesondere das immer ambitioniertere Indien, in diesem Jahr wieder einmal hinter den Erwartungen zurückblieben, lässt der Doppeltriumph in der Leichtathletik aufhorchen – und das nicht nur in sportlicher Hinsicht. Denn vor dem Hintergrund der ständigen Rivalität der beiden Atommächte präsentierten sich die beiden gleichaltrigen Athleten, die auf internationaler Ebene schon seit sieben Jahren um Titel konkurrieren, betont freundschaftlich und brachten die gegenseitige Wertschätzung füreinander, aber auch die Bedeutung ihrer Medaillen für den Leistungssport für Südasien insgesamt zum Ausdruck.

 

Algeriens neue Doppelspitze

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»Die Erfolge von Paris zeigen, was für eine enorme Energie im algerischen Sport steckt«, befand die Tageszeitung El-Khabar – und spielte damit wohl auch auf die Schlagzeilen an, für die die beiden Goldmedaillengewinnerinnen sorgten. Denn trotz der vor allem auf Twitter tobenden Hetzkampagne gegen die Boxerin Iman Khelif, gelang es der 25-Jährigen, nicht nur sportlich auf Kurs zu bleiben, sondern auch die Kontrolle über das über sie verbreitete Narrativ umzukehren – und dabei ein ganzes Land auf ihre Seite zu ziehen.

 

In Algerien und der nordafrikanischstämmigen Gemeinschaft in Frankreich insgesamt erreichten Rückendeckung, Unterstützung und trotziger Stolz auf Iman Khalif Ausmaße, mit denen vor den Spielen kaum zu rechnen waren. In Tiaret, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ein paar Hundert Kilometer südwestlich von Algier, wurde der Kampf um die Goldmedaille live übertragen und der Sieg der hier heimischen Weltergewichtlerin ausschweifend gefeiert. »Dankeschön, Du hast uns mit Würde in Paris repräsentiert«, richtete sich eine junge Zuschauerin in einem Interview der US-amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press an Khelif. Auch Algeriens umstrittener Präsident, der sich im Herbst um eine erneute Amtszeit bewerben will, ergriff die Gelegenheit, die plötzliche Popularität der Boxerin für sich nutzbar zu machen. »Dein Sieg ist Algeriens Sieg und dein Gold ist Algeriens Gold – Danke«, postete Abdulmajid Tebboune auf Twitter. 

 

Mit »der Performance ihres Lebens« schrieb eine weitere algerische Sportlerin Geschichte. Turnerin Kaylia Nemour gewann mit ihrer Übung am Stufenbarren als erste Frau aus Afrika eine Medaille im Turnen – nach Silber bei der WM im letzten Jahr stand sie nun ganz oben auf dem Treppchen. Dabei war die 17-Jährige zuvor jahrelang für Frankreich aufgelaufen. Nach einem Disput mit dem französischen Turnverband und folgender Sperre nach einer Knie-OP entschied sich Nemour jedoch im vergangenen Jahr, für das Geburtsland ihres Vaters anzutreten. »Frankreich liegt hinter mir, ich habe das Blatt gewendet«, sagte Nemour in einem Interview mit dem internationalen Sport-Nachrichtendienst SNTV.

 

Acht für Palästina

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Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele hatte der Krieg im Nahen Ost Schatten geworfen: Die Debatte um einen von einigen Ländern geforderten möglichen Ausschluss Israels ließ auch die Frage nach der möglichen Teilnahme palästinensischer Sportler aufkommen. Circa 400 Athleten sind seit dem 7. Oktober durch israelische Luftschläge getötet worden, Sporteinrichtungen in Gaza und im Westjordanland wurden durch das israelische Militär zerstört, beispielsweise in Tulkarem.

 

Gewichtheber Mohammed Hamada aus Gaza war 2021 noch nach Tokio gereist und hatte in der Gewichtsklasse bis 96 Kilogramm den 13. Platz erreicht. Nach Ausbruch des Krieges in Gaza und der von Israel verhängten Blockaden unter anderem von Nahrungsmitteln verlor der Schwerathlet 20 Kilogramm. Eine Knieverletzung infolge eines israelischen Luftangriffs setzte dem Traum von einer erneuten Teilnahme an den Olympischen Spielen ein jähes Ende.

 

Ein weiterer palästinensischstämmiger Athlet konnte sich diesen Traum aber erfüllen: Der 28-Jährige Fares Badawi wuchs als Sohn palästinensischer Geflüchteter im Lager Yarmuk bei Damaskus auf und floh im Jahre 2015 aufgrund des Krieges in Syrien nach Deutschland. Der Judoka, der inzwischen bei der ASV Göttingen aktiv ist, lief bereits im vergangenen Jahr bei den European Open in Madrid das erste Mal für Palästina auf, war auch in Paris Teil der insgesamt 8-köpfigen palästinensischen Delegation, verlor aber bereits seinen Auftaktkampf.

 

Treffpunkt Taekwondo

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Kampfsportarten genießen im Nahen Osten immer größere Popularität, insbesondere in einer Disziplin ist die Region überdurchschnittlich vertreten: Athleten aus Ägypten, Iran, Israel, Jordanien, Libanon, Marokko, Palästina, Saudi-Arabien, Tunesien und der Türkei traten in Paris beim Taekwondo an. Insbesondere Athleten (und vor allen Athletinnen) aus Iran gehören mittlerweile zu den Medaillenkandidaten – und standen dabei sogar auf unterschiedlichen Seiten: 2016 hatte Kimia Alizadeh mit ihrer Bronzemedaille in Rio der Janeiro für eine Sensation. In der Folge ging die Kampsportlerin ins Exil und läuft mittlerweile für Bulgarien auf. Im Halbfinale in der Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm stand die 26-Jährige auf der Matte inmitten des Grand Palais nun ausgerechnet ihrer langjährigen Trainingspartnerin Nahid Kiyani gegenüber, die weiterhin für die Islamische Republik antritt. Alizadeh unterlag und sicherte sich abermals Bronze, während Kiyani am Ende Silber und damit eine von vier Medaillen für Iran im Taekwondo errang.

 

Auch jenseits der Medaillenentscheidung sorgten einige der Paarungen für Zündstoff: Im Fliegengewicht unterlag die israelische Bronzemedaillen-Gewinnerin von Tokio, Avishag Semberg, in der ersten Runde der saudischen Taekwondoka Dunya Abu Taleb, die wiederum eine Bronzemedaille im Duell mit der Iranerin Mobina Nematzadeh später knapp verlor. Semberg hatte ihren Sieg bei einem Turnier in Österreich im Februar dieses Jahr den israelischen Streitkräften (IDF) gewidmet und berichtet, eine Freundin während des Massakers der Hamas auf dem Nova-Festival verloren zu haben.

 

Auf einen Schlag berühmt

Der Nahe Osten, Südasien und die Türkei bei den Olympischen Spielen

Die Türkei belegte bei den Olympischen Spielen mit drei Silber- und fünf Bronzemedaillen Platz 64 im Medaillenspiegel – insgesamt ein enttäuschendes Ergebnis für die sportbegeisterte Nation. Immerhin: Sportschütze Yusuf Dikeç schaffte es mit seiner scheinbar lässigen Pose mit einer Hand in der Hosentasche auf die Liste der ikonischen Schnappschüsse der Pariser Spiele – mittlerweile hat das Motiv gar den Weg in den Berliner Mauerpark gefunden.

 

Doch auch in sportlicher Hinsicht sorgten vor allem zwei Sportarten für eine gute Nachrichten. Dazu zählten – wie auch im Fall Algeriens – die Wettbewerbe der Frauen im Boxen. Die Bilanz: Buse Naz Çakıroğlu, Hatice Akbaş und Esra Yıldız Kahraman konnten drei Medaillen einfahren. Ebenso wie beim Taekwondo (auch hier gewann eine türkische Athletin Bronze) bietet die erst 2012 auch für Frauen auf olympischer Ebene geöffnete Disziplin neue Freiräume – und Raum für sportlichen Erfolg, der den männlichen Vertreter aus der Türkei bei diesen Spielen durchaus in den Schatten stellte.

 

Eine weitere Erfolgsgeschichte des türkischen Sports setzte sich zwar in Paris fort, wurde aber nicht mit einem Medaillengewinn gekrönt. Nachdem die Volleyballerinnen im vergangenen Jahr sensationell die Europameisterschaften gewannen und im Land selber ein Debatte um die lesbische Außenangreiferin Ebrar Karakurt entbrannte, stürmten sie diesmal bis ins Halbfinale – dort war gegen den späteren Olympiasieger Italien Schluss, im Spiel um Bronze mussten sie sich den Brasilianerinnen geschlagen geben. Dennoch: die Erfolge der vergangenen Jahre haben für einen Boom gesorgt und Volleyball zu einem der inzwischen beliebtesten Sportarten in der Türkei aufsteigen lassen.

Von: 
zenith-Redaktion

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