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Flucht und Migration aus Afghanistan

Das Flüchtlingsdrama, Afghanistan und wir

Kommentar

Immer mehr Afghanen fliehen nach Europa. Das Land droht zum dritten Mal binnen kurzer Zeit eine ganze Generation durch Flucht zu verlieren. Der Westen hat eine besondere Verantwortung für Afghanistan – mehr noch als in Afrika und Nahost.

Viele Jahre habe ich selbst in Afghanistan am Aufbau der dortigen Zivilgesellschaft mitgewirkt. Jetzt und in wachsender Zahl erhalte ich Emails von afghanischen Bekannten und Familienoberhäuptern, die auf der Flucht sind mit Frau und Kind. Sie bitten mich um Hilfe und wollen nach Deutschland. Dass Flüchtlinge bei uns nicht immer gut gelitten sind, wissen die Bekannten nicht. Im Gegenteil: Die Rekordzahlen, die zirkulieren, scheinen auf viele eher den Eindruck zu machen, irgendwer werde sich am Ziel um sie kümmern.

 

Eine Mail ist von Hassan, einem Filmemacher. Er schreibt, dass er vor den Taliban auf der Flucht sei. 2012 wurden seine Arbeiten auf der »Documenta13« in Kassel gezeigt. Jetzt hat er eine Reportage über einen Mullah gedreht, der die Aussöhnung mit den Taliban suchte und dabei ums Leben kam. In Kabul hatte Hassan ein kleines Café, ein Künstlertreff, in dem sich junge Männer und Frauen trafen. Von dort flüchtete er, nachdem die Polizei eine Razzia durchführte. Offenbar handelte die Polizei im Auftrag konservativer Geistlicher. Wie den Taliban ist den Geistlichen westliche Lebenskultur, in der sich junge Frauen und Männer offen begegnen, ein Dorn im Auge.   

 

Jede dieser Emails meiner Bekannten bedrückt mich. Die Zivilgesellschaft scheint auf einmal und rasant in Auflösung begriffen. Tiefe wirtschaftliche Depression hat sich breitgemacht in Afghanistan nach dem Abzug der ausländischen Truppen. Depression auch, weil viele Gegenden im Land immer unsicherer werden. So bleiben Investitionen aus und es gibt keine Arbeit. Deshalb macht auch die Trennung zwischen Wirtschafts- und politischen Flüchtlingen vom Hindukusch keinen Sinn.   

 

Was politisch, was wirtschaftlich motivierte Flucht ist, müsste die Einzelfallprüfung ergeben. Dies ist aber unter den Bedingungen Afghanistans nicht möglich. So ist es auch verständlich, dass – nach vielen afghanischen Übersetzern der Bundeswehr, die mittlerweile in Deutschland sind – nun auch afghanische Angestellte der zivilen Hilfsorganisationen Ähnliches einfordern. Sie sind oft nicht weniger exponiert.   Mittlerweile hat ein System aus Schleppern auch Kabul und die afghanischen Städte erreicht, schildern Helfer, die schon lange im Land wohnen. Eltern gelingt es im einen Fall nicht mehr, ihre Kinder von der Auswanderung abzuhalten. Andere setzen ganz bewusst alles auf eine Karte und lassen den Nachwuchs als Vorhut ziehen.

 

Politiker fordern jetzt mehr Druck auf jene Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen. Ihre Regierungen sollen sich mehr um die eigenen Landsleute kümmern. Im Grunde stimmt das. Für Afghanistan zieht das Argument allerdings nur begingt. Denn die USA und der Westen finanzieren weiterhin bis zu 90 Prozent der Kabuler Staatsausgaben. Druckmöglichkeiten sind also durchaus real. In Wahrheit aber ist viel versäumt worden.

 

Dazu gehören auch Schritte, die die Menschen von der Flucht hätten abhalten könnten. Sinnvoll wäre rückblickend ein wirtschaftlicher Marshall-Plan für Afghanistan gewesen statt eines »light footprint«. Also echte Wohnungsbauprogramme, robustere Hilfen für die afghanische Industrie und Landwirtschaft. Investitionen in Solar-Energie. Projekte in jedem Fall, die das Land nicht als Absatzmarkt für deutsche und ausländische Waren begreifen. Bis 2006 hätte man so Zeichen setzen können. Da waren die Taliban noch nicht erstarkt. Jetzt ist es zu spät, um auf Knopfdruck umzuschalten.

 

Die Zuwendungen der Geberländer bewirken, dass sich viele der afghanischen Warlords bis heute der Macht halten können

 

Meine Bekannten beklagen in den Emails: »Die Jüngeren bekommen keine Chance.« Arbeit werde nicht nach Qualifikation vergeben, sondern nach Seilschaften und »Vitamin B«. Viele haben längst resigniert, weil unverändert Korruption oder gewendete Warlords im Land herrschen. Auch das ist ein Fluchtgrund.

 

Dabei sind es die Geberländer die, nolens volens, viele der Warlords bis heute an der Macht halten. So können wir uns, wohl oder übel, von einer Mitverantwortung für den aktuellen Exodus nicht freisprechen. Was also tun? Afghanistan braucht unverändert langfristige Projekte und weniger versickernde Milliarden. Projekte, die Hoffnung vermitteln. Ich unterstütze zurzeit ein Theaterfestival in Kabul, bei dem junge Menschen ihre Lebensentwürfe und Kritik auf die Bühne tragen.

 

Vor wenigen Monaten haben Terroristen eine solche Aufführung in die Luft gesprengt. Jetzt setzen diese Studenten ein Zeichen, dass sie sich nicht einschüchtern lassen und weiter an die afghanische Zivilgesellschaft glauben.

Von: 
Martin Gerner

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