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Islamische Institutionen in Deutschland

Guter Zivilislam, böser Verbandsislam?

Essay

Die gegenwärtigen Bemühungen um Extremismusbekämpfung zeigen den Bedarf an muslimischen Verbandsstrukturen und Repräsentanten an, decken zugleich aber die Missstände muslimischer Institutionalisierung auf.

Während im Nahen Osten der militärische Kampf gegen die Terrorgruppe IS und weitere Gruppierungen tobt, bringen Muslime hierzulande gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen ihren Widerstand gegen Extremismus und Gewalt über Kundgebungen und einen breit angelegten Aktionstag zum Ausdruck. Dennoch sehen sie sich nach wie vor dem Vorwurf ausgesetzt, sie täten nicht genug. Obschon die mediale Resonanz insgesamt positiv war, nehmen Kritiker die vom Austauschgremium muslimischer Dachverbände (KRM) initiierte Aktion zum Anlass, Bürokratie- und Funktionärslastigkeit des Verbandsislam in Deutschland zu bemängeln und richten den Fingerzeig auf ideologische Altlasten, welche muslimische Organisationen bis heute prägen würden.

 

Ob der Graben, der hier zwischen – gutem – zivilgesellschaftlichen und einem – verknöchterten – Verbandsislam aufgeworfen wird, gewinnbringend ist und den gegebenen Realitäten entspricht, ist zweifelhaft. Die gesellschaftliche Verwurzelung von Muslimen und ihrer religiösen Einrichtungen in Deutschland ist weit vorangeschritten, was sich gerade an ihren Verbandsstrukturen zeigt. Ihr organisatorischer Guss ist hierzulande nicht nur von den Eigenschaften ihrer Mitglieder bestimmt und von der jeweiligen Glaubensform, die sich dort entfaltet, sondern vielmehr von religionsrechtlichen und politischen Maßgaben geprägt.

 

Dies hat zu Konturen geführt, die als spezifisch deutsch bezeichnet werden können. Aber auch an dem zivilgesellschaftlichen Engagement zahlreicher Dachverbandsgemeinden in den Bereichen Sport, Kultur und Soziales und an ihren gesellschaftspolitischen Positionierungen zu aktuellen Fragen ist ihre Hinwendung zur Gesellschaft und der ernste Wille zur Übernahme von Verantwortung erkennbar.

 

Zivilgesellschaftliche Aktivitäten von Muslimen spielen sich damit nicht nur in verbandslosen Gruppierungen junger Muslime ab, sondern sind über sämtliche organisatorischen Formationen des Islam in Deutschland hinweg zu finden. Dass von Glaubensgemeinschaften gesellschaftliche Impulse und Dienste hervorgehen, liegt in der Natur von Weltreligionen und ist im säkular verfassten Deutschland dank Diakonie und Caritas selbstverständliche Realität. Sie werden dementsprechend auch von Muslimen erwartet, was Fragen nach einer Distanzierung muslimischer Repräsentanten von extremistischen Gewaltakten beispielhaft zeigen. Für gemeinsame gesellschaftspolitische Stellungnahmen haben sich muslimische Dachverbände 2007 einen Koordinationsrat geschaffen. Alltägliche soziale Dienste finden derweil überwiegend auf lokaler Ebene statt.

 

Funktionärsislam versus islamische Zivilbürgerschaft

 

Betrachtet man zusammengenommen die vielfältigen Aktivitäten der Ortsgemeinden muslimischer Dachverbände, so werden zwei simplifizierende Annahmen, die in den Kritiken gegen Verbände impliziert sind, obsolet. Zum Einen werden Vorbehalte gegen einen von oben gesteuerten Funktionärsislam geschürt und zum anderen dem eine romantisierende Vorstellung einer pulsierenden, weil unkontrollierten, muslimischen Zivilbürgerschaft gegenüber gesetzt.

 

Die Geschichte muslimischer Institutionalisierung zeigt, dass die meisten Moscheegemeinden in der BRD nicht etwa über eine Zentralinstanz ins Leben gerufen, sondern von Muslimen vor Ort eigeninitiativ begründet und zunächst ehrenamtlich betrieben wurden. Erst später erfolgte in den meisten Fällen nach dem »Bottom-Up«-Prinzip der Zusammenschluss einzelner Gemeinden zu Dachverbänden. Die Vorstellung eines Blocks zentralistisch geführter, hierarchisch straff durchorganisierter Dachverbände, deren Gemeinden gleich geschaltet sind und »von Oben« regiert werden, entspricht also weder der entwicklungsgeschichtlich verankerten starken Position, die lokalen Gemeinden im Gefüge zukommt.

 

Noch wird sie der organisatorischen Differenz großer Dachverbände gerecht, die unterschiedliche Formalisierungsgrade und Organisationsformen aufweisen. Es gibt zwar unter den islamischen Verbänden solche, die stark verbürokratisiert sind und wo eine Ämterhierarchie mit machtvoller zentralisierter Steuerung zu finden ist. Bei anderen Verbänden haben regionale Austauschgremien oder die einzelnen lokalen Gemeinden weitreichende Entscheidungsbefugnisse, so dass ihre zentralen Apparate vorwiegend Repräsentation und den Austausch sicherstellen und Ressourcen bündeln. 

 

Lokale Zugänge zur Gemeindearbeit vor Ort zeigen auf, dass die Initiative für soziale und andere Dienste sowie für die Dialogarbeit zumeist aus der Mitte lokaler Gemeinden ausgeht und nicht etwa von einem Funktionär der Zentralverwaltung hinter seinem Schreibtisch konzeptionalisiert und den Gemeinden diktiert wird. Sie orientiert sich an dem Bedarf vor Ort. Dies heißt nicht, dass es nicht Projekte geben kann, die über verschiedene Gemeinden hinweg ausgeführt werden, von der Zentralinstanz ausgehen und damit zentral gesteuert sein können.

 

Nutzen und Lasten eines bürokratisierten Verbandsislam

 

Gerade mit Blick auf die Notwendigkeit gemeinsamer Stellungnahmen von Muslimen und deren Institutionen, wie im Falle eines deutlichen Aufbegehrens gegen Terroristen und Extremisten, erscheinen zentrale Instanzen, die von den einzelnen Gemeinden als deren öffentliche Repräsentanzen angenommen werden, sinnvoll. Auch hinsichtlich der Realisierung einer internen Abstimmung und eines Austauschs von Gemeindevertretern und der Imame in den Moscheegemeinden zum Umgang mit extremistischen Tendenzen unter Jugendlichen in Deutschland sind Dachverbandsstrukturen hilfreich, die verschiedene Gemeinden zusammenhalten, ihnen Hilfestellung geben und eine Kommunikation unter ihnen ermöglichen.

 

Eine prinzipielle Skepsis gegenüber muslimischen Funktionären und Dachverbänden ist damit kontraproduktiv. Die institutionellen Logiken eines bürokratisierten Verbandsislam bergen Vorteile aber auch Nachteile in sich. Mit einer pauschalen Ablehnung ihrer ethnischen Unität, ihrer Funktionäre und ihrer Strukturen, wird der Weg zu einer ernsthaften Diskussion ihrer Stärken und Schwächen verbaut. Auch das Widerkauen überholter politisch-normativer Debatten um ihre »ideologischen Wurzeln«, die früher als »fundamentalistisch« und heute als »modernistisch-islamistisch« bezeichnet werden, verfängt sich in anachronistischen Einwegdeutungen, die innere Dynamiken und diskursive Prozesse in der Auseinandersetzung muslimischer Gemeindemitglieder mit dem Glauben nivellieren.

 

Eine schematische Wahrnehmung und Thematisierung bestehender muslimischer Dachverbände übergeht dementsprechend die interne Heterogenität an Positionen und Milieus innerhalb einzelner Organisationen, ihre strukturellen und Inhaltlichen Ausdifferenzierungs- und Wandlungsprozesse, sowie ihre sozialen Leistungen vor Ort.

 

Chancen und Risiken eines unbändigen Zivilislams

 

Zudem wäre zu fragen, wer die schwierigen Aufgaben von Repräsentanz und Sicherung glaubensbezogener Anliegen auf politischer Ebene von Muslimen in Deutschland stattdessen schultern könnte? Derweil stellt sich die Frage, ob muslimische Gruppierungen außerhalb der Dachverbände zusammengenommen für eine positive, ideologisch unvorbelastete und freie Auseinandersetzung mit dem muslimischen Glauben stehen und für ihre zivilgesellschaftlichen Beiträge gefeiert werden sollten. Die große Bandbreite an Gruppierungen, die hier in den vergangenen Jahren entstanden sind, ist noch nicht systematisch erfasst und analysiert worden.

 

Einzelne Beispiele, die von Wissenschaftlern oder Journalisten näher beleuchtet werden, legen Tendenzen offen, die tatsächlich mal optimistisch stimmen und andere Male schockieren. Die gefährlichste Form radikalislamischen Gedankenguts, so hat sich in Untersuchungen zum gewaltbejahenden Salafismus gezeigt, findet nämlich überwiegend in verbandslosen netzwerkartigen Zusammenschlüssen bar einer Rechtsform oder einer beständigen räumlichen Fassung ihre Keimzelle.

 

Andererseits kommen gerade in deutschsprachigen muslimischen Jugendnetzwerken innovative und kreative Ideen auf, die ein selbstverständliches gesamtgesellschaftliches Miteinander stützen und um eine prosperierende Zukunft ihrer Gesellschaft bemüht sind. Sie gehen in ihrem Engagement weit über Bemühungen um Behebung von Missständen innerhalb der muslimischen Minoritätengruppe hinaus.  

 

Mängel islamischer Institutionalisierung in Deutschland

 

Angesichts dieses Phänomens ließe sich in der Tat fragen, warum die Verbandsgemeinden von zahlreichen jungen Muslimen trotz ihrer Räume und Ressourcen nicht als Orte genutzt werden. Und warum wenden sich junge Muslime vielerorts lieber radikalislamischen, zumeist deutschsprachigen Netzwerken und Leitfiguren zu, obwohl in jeder Gemeinde religiöse Unterweisungen und Predigten seit Jahrzehnten abgehalten werden? Anhand solcher Phänomene offenbaren sich gravierende Missstände islamischer Institutionalisierung in Form autarker, überwiegend zentrovertierter Dachverbände.

 

Klar ist, dass aufgeheizte extremistische Positionen nicht unter stabilen Verhältnissen von Dachverbandsgemeinden zirkulieren können. Auch innerhalb dachverbandsloser muslimischen Gruppierungen und Netzwerke, die deutlich um gesellschaftliche Partizipation bemüht sind, haben sie keine Chance. Im Endeffekt ließe sich schließen, dass sämtliche großen muslimischen Organisationen und kleine Netzwerke und Gruppen, die um eine den gesellschaftlichen Verhältnissen adäquate Ausübung ihres Glaubens, um Akzeptanz und um soziale Partizipation bemüht sind, über ihre organisatorischen, strategischen und glaubensbezogenen Divergenzen hinaus keine Brutstätten für extremistische Tendenzen sein können.

 

Sie mit Erwartungen und Vorwürfen zu überschütten und ihre Bemühungen gegen soziale Missstände und Extremismus argwöhnisch und dauerkritisch zu kommentieren, wirkt demotivierend und schürt zugleich radikale Tendenzen auf allen Seiten. Statt eine binäre Spaltung des organisierten muslimischen Feldes herbeizureden, sollte gemeinsam erörtert werden, wie in gegenseitiger Anerkennung Synergien für gemeinsame Anliegen geschaffen werden können. Wie dabei die größtenteils knappen Ressourcen muslimischer Organisationen und Gruppen besser gebündelt und im geteilten Bemühen um gesunde Überzeugungen und um ein friedvolles Miteinander, gegen Extremismus und Minderheitendiskriminierung – im Schulterschluss mit anderen gesellschaftlichen Akteuren – eingesetzt werden können, ist hierbei die zukunftsweisende Frage.


Raida Chbib ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam der Goethe-Universität in Frankfurt/Main.

Von: 
Raida Chbib

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