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Knesset-Abgeordnete Shelly Tal Meron über den Krieg in Gaza und Frauenrechte in

»Die Geiseln nach Hause bringen – das wäre ein Sieg«

Interview
Knesset-Abgeordnete Shelly Tal Meron über den Krieg in Gaza und Frauenrechte in Israel
Shelly Tal Meron (rechts) zog 2023 in die Knesset ein und gründete den Ausschuss für die Opfer sexueller Gewalt gegen Frauen während des Gaza-Krieges.

Die Knesset-Abgeordnete Shelly Tal Meron über Frauen in Politik und Militär und was Repräsentation mit dem Gaza-Krieg zu tun hat. Die Abgeordnete erklärt zudem, warum ihre Partei Yesh Atid Netanyahus Rücktritt fordert – und wie eine neu zusammengesetzte israelische Regierung aussehen könnte.

zenith: Wie hat sich Ihre Arbeit in der Knesset seit dem 7. Oktober verändert?

Shelly Tal Meron: Es ist nicht nur eine Ehre, sondern auch ein historischer Zeitpunkt, Mitglied der Knesset zu sein. Vor dem Krieg waren wir mit der Justizreform beschäftigt und ich war mir sicher: Die Verhinderung dieses Vorhabens wird das Wichtigste sein, was ich in meinem Leben jemals tun werde. Der 7. Oktober hat dann alles verändert.

 

Inwiefern?

Unmittelbar nach dem Anschlag richteten wir Abgeordnete eine Art Notfallzentrum ein. Dort beschäftigten wir uns mit dem ganzen Chaos, das während des ersten Monats herrschte. Wir sammelten eine Menge internationaler Spenden für den Staat Israel, oder halfen Soldaten, Reservisten, Geiseln und deren Familien. Zudem rief ich zwei Arbeitsgruppen in der Knesset ins Leben. Einmal das Komitee zur Situation der Geiseln und dann das Komitee für die Opfer sexueller Gewalt in diesem Krieg. 134 Geiseln, einschließlich jener, die bereits getötet wurden, befinden sich weiterhin im Gazastreifen. Unter diesen 134 sind 17 Frauen und Babys, die auf ihre Freilassung warten.

 

Was können Sie uns über die Situation der Geiseln im Gazastreifen sagen?

Wir sind äußerst besorgt. Die meisten Geiseln werden in Tunneln gefangen gehalten, Sauerstoff, Wasser oder Nahrung gibt es kaum. Wie Sie wissen, kommt es weiterhin zu sexueller Gewalt. Unsere Frauen müssen sofort nach Hause zurückkehren. Nicht nur die Frauen, sondern alle Geiseln. Der einzige Unterschied ist, dass Frauen schwanger werden können. Es fällt mir schwer, sowas auszusprechen: Nach mehr als 135 Tagen ist es gut möglich, dass diese Frauen schwanger sind oder gar in Gefangenschaft ein Kind zur Welt bringen müssen. Das werde ich nicht akzeptieren und deshalb kämpfe ich für sie. Es gibt in diesem Krieg zwei Ziele. Das erste ist die Zerstörung der Hamas und das zweite die Rückkehr unserer Geiseln. Meiner Meinung nach sollte die Rückkehr der Geiseln die oberste Priorität unserer Strategie sein.

 

»29 weibliche Abgeordnete von insgesamt 120. Das ist unglaublich wenig«

 

Ist das der Grund dafür, dass Sie zwei Mitglieder der regierenden Likud-Partei gebeten haben, die Komitees gemeinsam mit Ihnen zu leiten?

Boaz Bismuth und Tsega Melaku – beide Likud – fragte ich ganz bewusst an, ob sie die Komitees mit mir leiten möchten. Ich bin überzeugt, dass es sich um parteiübergreifende Themen handelt. Es geht nicht um Politik, sondern darum, moralische Klarheit zu behalten und das Richtige zu tun. Israelische und internationale Medien berichteten ausführlich über das erste Treffen der Arbeitsgruppe. Wir konnten viel Aufmerksamkeit generieren – das war auch eines der Hauptziele: Zwei oder drei Tage nach Beginn des Krieges verlagerte sich die Berichterstattung dann aber auf den Gazastreifen. Niemand sprach mehr darüber, was uns am 7. Oktober angetan wurde.

 

Wie viel Einfluss können Sie über diese Arbeitsgruppen ausüben?

Boaz, Tsega und ich setzten uns an einen Tisch und erarbeiteten einen Plan. Beispielsweise baten wir die Europäer, Druck auf das Rote Kreuz auszuüben, damit sie endlich unsere Geiseln besuchen. Wir trafen uns auch mit Gal Hirsch, dem Beauftragten der Regierung für Entführte und Vermisste. Letztlich bin ich aber Teil der Opposition und nicht der Regierungskoalition. Damit ist mein Einfluss auf Regierungsentscheidungen sehr begrenzt. Gleichzeitig versuchen wir unser Bestes, um öffentlich Druck auf die Regierung auszuüben. Meiner Meinung nach muss so schnell wie möglich ein weiteres Geiselabkommen zustande kommen. Ich möchte zudem noch öfter ins Ausland reisen. In Israel spricht jeder davon, dass die Geiseln zurückkommen müssen, wirklich jeder. Doch ich will, dass die ganze Welt darüber spricht. Denn im Moment sprechen alle über Gaza.

 

Wie lautet Ihre Botschaft an die internationale Gemeinschaft?

Wir sind sehr, sehr enttäuscht über die internationalen Frauenrechtsorganisationen. Sowohl UN-Women als auch die #MeToo-Bewegung blieben stumm: Nicht ein einziges Mal verurteilten sie die Taten der Hamas, das was diesen Frauen widerfahren ist oder ihnen jetzt in Gaza widerfährt. Ich habe Briefe an diese Organisationen geschickt und sie aufgefordert, diesen unschuldigen Frauen beizustehen, die so etwas Schreckliches durchmachen mussten. Doch sie reagierten nicht. Als Frau, als Aktivistin, die seit Jahren für Frauenrechte kämpft, fühlte ich mich verraten. Niemand stand auf, unterstützte uns und sagte: Was diesen Frauen widerfährt, ist nicht richtig. Wir müssen es immer wieder und wieder deutlich machen: Israel hat diesen Krieg nicht gewollt. Ich bin froh, dass vor einigen Wochen eine Vertreterin von UN-Women nach Israel reiste. Sie traf die freigelassenen Geiseln, deren Familien und die Strafverfolgungsbehörden. Sie alle gaben ihr wichtige Informationen mit und teilten ihre Geschichten. Jetzt versteht sie die Situation viel besser. Aber es dauerte sehr, sehr lange – und ehrlich gesagt auch zu lange. Vier Monate sind inzwischen vergangen.

 

An welchen anderen Fronten kämpfen Sie als Abgeordnete für Frauenrechte?

In der Knesset sind wir nur 29 weibliche Abgeordnete von insgesamt 120. Das ist unglaublich wenig. Vor dem 7. Oktober kritisierte ich ständig den Mangel an Frauen in Führungspositionen, etwa in der Regierung. Auch im Sicherheitskabinett ist nur eine einzige Frau vertreten. Das ist beim besten Willen nicht genug und wirkt sich auf die getroffenen Entscheidungen aus. Wenn es um sexuelle Übergriffe gegen Frauen geht, muss eine Frau mit am Tisch sitzen, um dieses Thema zu diskutieren. In Israel gibt es eine Menge zu verbessern – die lächerlich niedrigen Strafen für sexuelle Gewalttäter sind nur ein Beispiel dafür. Einer der wenigen guten Sachen in diesem Krieg – wobei Krieg grundsätzlich nichts Gutes ist: Die Menschen in Israel haben wirklich erkannt, wie wunderbar unsere Frauen sind. Plötzlich herrscht in der israelischen Gesellschaft ein Konsens darüber, dass unsere Frauen großartige Arbeit leisten, wie unsere Soldatinnen und Pilotinnen. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen und unsere Situation verbessern.

 

»Wir müssen an den Tag danach denken. Wir können diese wichtige Frage nicht länger ignorieren«

 

Im Vorfeld des 7. Oktober übermittelten Armeeaufklärerinnen entlang der Grenze zum Gazastreifen Warnungen über die bevorstehende Hamas-Operation, stießen aber auf taube Ohren. Wie sehr bedroht das Fehlen von Frauen in wichtigen Führungspositionen Israels Sicherheit?

Lassen Sie mich es so sagen. Ich war Offizierin bei der israelischen Luftwaffe und habe sieben Jahre lang gedient. Aus dieser Erfahrung heraus kann ich Ihnen sagen, dass ich persönlich eine wunderbare Zeit bei der Armee hatte. Überall wo ich diente, war ich vollkommen gleichberechtigt und traf in Führungspositionen wichtige Entscheidungen – darauf bin ich sehr stolz. Klar ist aber auch: Nicht überall in der Armee herrschen solche Verhältnisse. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Weiterhin wird Frauen der Zugang zu einigen Posten im Militär verwehrt. Wir müssen den Zugang für all jene Frauen öffnen, die sich für solche Aufgaben eignen und den Job auch machen wollen. Was im Fall der Armeeaufklärerinnen an der Grenze schiefgelaufen ist, müssen wir untersuchen. Doch dazu sind wir noch nicht gekommen, denn es herrscht weiterhin Krieg. Sobald der beendet ist, muss die Armee auswerten, was passiert ist. Nicht nur im Fall der misslungenen Gefahrenerkennung, sondern in allen Bereichen. Fest steht erst mal nur, dass der Armeeaufklärung kein Gehör geschenkt wurde, was inzwischen sicher alle bereuen. Und es zeigt: Frauen verdienen mehr Respekt.

 

Vor einigen Wochen sagten Sie in einem Interview, dass 136 Särge mit israelischen Flaggen, die aus dem Gazastreifen kommen, kein Siegesbild sein können.

Zunächst einmal zur Klarstellung: Es wird kein Siegesbild geben. Dieser enorme Verlust an Menschenleben: Allein 1.200 Menschen am 7. Oktober und seither fast 600 Soldaten. Hier gibt es keinen Sieg. Menschen sterben jetzt und das ist nie etwas Gutes. Der Sieg wird in erster Linie darin bestehen, die Geiseln nach Hause zu bringen und sie hier in Israel lebend wiederzusehen. Danach müssen wir unsere militärischen Ziele erreichen, den Krieg beenden und an den Tag danach denken. Wir können diese wichtige Frage nicht länger ignorieren. Andernfalls befinden wir uns noch in 20, 30 oder 40 Jahren in diesem Kreislauf endloser Kriege, Operationen und Feindseligkeiten zwischen beiden Seiten. Die Hamas ist eine terroristische Organisation, die zerstört werden muss. Aber wir müssen einen Weg finden, wie wir als Nachbarn nebeneinander leben können. Dazu müssen wir auch Partner finden, die bereit sind, eine Zukunft für beide Länder zu schaffen. Unsere Partei hat Netanyahu zugesichert, ein parlamentarisches Sicherheitsnetz zu spannen, sollten die Extremisten in seinem Kabinett versuchen, ein Abkommen zu verhindern, indem sie drohen, die Regierung platzen zu lassen. Ich bin sehr besorgt darüber, dass parteipolitisches Taktieren eine so wichtige Rolle im Entscheidungsprozess des Premierministers einnimmt. Hier geht es nicht um ein Immobiliengeschäft. Sondern um Menschen, um Angehörige, die weiter auf ihre Geliebten warten.

 

Fordern Sie und auch Ihre Partei den Rücktritt von Benjamin Netanyahu?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe das bereits auf unterschiedlichste Weise deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich denke, der beste Weg wäre, die Regierung ohne Wahlen auszutauschen – wenn das möglich ist. Wir sollten ein breites Regierungsbündnis mit den verschiedenen Knesset-Parteien bilden, einschließlich des Likud, allerdings ohne Netanyahu. Es braucht eine neue Führung, die die israelische Gesellschaft versöhnen und eine gemeinsame Zukunft schaffen kann. Wenn aber kein Weg dran vorbeiführen sollte, müssen Neuwahlen abgehalten werden.

 

Wie versucht Ihre Partei, dieses Ziel zu erreichen?

Das meiste, was wir in dieser Hinsicht unternehmen, diskutieren wir nicht über die Medien. Aber wir machen keinen Hehl daraus, dass diese Regierung sofort abgelöst werden soll. Wir sind der Meinung, dass Netanyahu nicht mehr Premierminister sein sollte. Er begeht enorme Fehler und hat weiterhin keinerlei Verantwortung für das übernommen, was am 7. Oktober geschehen ist, denn genau das hätte er als erstes tun müssen. Wenn man das Sagen hat, ist man auch verantwortlich. Während meiner Zeit als Offizierin in der Armee übernahm ich Verantwortung, wenn bei meinen Soldaten etwas schieflief. Ich war die Befehlshaberin und damit lag es an mir. Das Gleiche erwarte ich von der Führung unseres Landes. Die Menschen in Israel haben das Recht zu entscheiden, wer sie in den nächsten Jahren anführen wird. Ich freue ich, diese Regierungskoalition mitabzulösen.


Shelly Tal Meron (44), ist seit 2023 Mitglied der Knesset für die liberale Oppositionspartei Yesh Atid. Die Mutter von zwei Kindern hat in der IT-Industrie gearbeitet und diente zuvor in der israelischen Luftwaffe. In der 25. Knesset ist sie in verschiedenen Ausschüssen tätig, unter anderem im Finanzausschuss, im Ausschuss für Frauenrechte, im Alijah- sowie im Wissenschafts- und Technologieausschuss.

Von: 
Ignaz Szlacheta und Pascal Bernhard

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