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Ende des Ausnahmezustands in Ägypten

Im Kostüm des Rechtsstaats

Analyse

Ein ägyptisches Gericht erklärt den drei Monate währenden Ausnahmezustand für beendet. Ist die Zeit gekommen, Jubelhymnen auf die neue Rechtstaatlichkeit am Nil anzustimmen oder bleibt General Sisi über die Macht der Justiz erhaben?

Von der Absetzung des ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens mag man halten, was man will. Der Übergang zur Demokratie bleibt holprig. Der abstruse Personenkult um General Abdelfatah El-Sisi hat auch anfängliche Verfechter der Machtübernahme durch das Militär ins Zweifeln gebracht. Nicht wenige öffentliche Stimmen behaupten, Ägypten befinde sich längst in einer Diktatur, die jene Mubaraks übertreffe. Doch diese Kritiker sind in der Minderheit.

 

Die Massen jubeln Sisi zu und wollen ihn als Präsidenten sehen. Die Verfolgung politischer Gegner vollzieht sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terrorismus. Die propagandistische Dämonisierung der Muslimbrüder rechtfertigt scheinbar jedes Mittel. So auch den Notstand, der seit der gewaltsamen Räumung zweier Protestcamps der Islamisten am 14. August dieses Jahres in Kairo wieder willkürliche Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Ausgangssperren autorisiert.

 

Am 12. November beendete das Oberste Verwaltungsgericht nun überraschend die im September beschlossene zweimonatige Verlängerung des Notstands. Obwohl dieser in zwei Tagen sowieso ausgelaufen wäre, schaltet sich die Justiz ein und korrigiert: Nein, der beschlossene Notstand gelte nur zwei Kalendermonate und zwar ab Datum seiner Verkündung. Viel gewonnen ist damit zwar nicht, jedoch hat Ägyptens Justiz wieder einmal deutlich gemacht, dass mit ihr zu rechnen ist – dass Gesetze und Dekrete überwacht werden, dass sie bereit ist, die Regierung in die Schranken zu weisen.

 

Die formale Rechtsstaatlichkeit ist nur die eine Seite der Medaille

 

Ja, Ägyptens Richter verstehen sich als eine eigenständige, unabhängige Gewalt im Staate. Die meisten sind noch unter Mubarak berufen worden, einige unter Mursi, viele stehen entweder dem alten Regime oder islamistischen Strömungen nahe. Und ja, politische Urteile gab und gibt es immer wieder in Ägypten. Dennoch ist die Justiz nicht wie in anderen autokratischen Ländern der verlängerte Arm der Regierung. Wert legt man auf Formalitäten, auf Fristen, auf ordentliche Verfahren.

 

Ein Rechtsstaat möchte man sein, und die Justiz möchte sich als Speerspitze dieses Rechtsstaats inszenieren. Ob Auflösung des Parlaments, Korrektur des Wahlsystems oder die lebenslange Haftstrafe für Mubarak – die Justiz hat die Politik Ägyptens immer wieder mit Überraschungsurteilen aus ihrer starren Bahn geworfen. So sind auch die neusten richterlichen Beschlüsse zu beurteilen.

 

Die Führungsriege der Muslimbrüder wurde nicht im Schnellverfahren abgeurteilt. Stattdessen legten die zuständigen Richter bei Prozessbeginn ihr Mandat wegen Befangenheit nieder. Muhammad Mursi wurde vergangene Woche ebenso wenig vor Gericht vorgeführt. Weil der Richter die inkorrekte Kleidung des Angeklagten und die Zwischenrufe im Gerichtssaal bemängelten, wurde das Verfahren verschoben. Nun wird der Notstand zwei Tage vor seinem Auslaufen vom Gericht beendet.

 

Das alles kann nur als klares Signal an Sisi verstanden werden: Schauprozesse mit einer schnellen Aburteilung der Muslimbrüder wird es nicht geben. Mit der Justiz ist zu rechnen. Doch ganz so rechtsstaatlich, wie es den Anschein hat, sieht es in Sisis Ägypten nicht aus. Der gegenwärtige Gesetzesentwurf des Justizministeriums für ein neues »Anti-Terror-Gesetz« untergräbt im Zweifel alles, was Bürgerrechte ausmacht: Soziale Netzwerke dürfen von staatlichen Stellen durchforstet werden, bei Verdacht haben Richter und Staatsanwälte Zugang zu Bankkonten. Ein stabiles autoritäres Regime bekommt man in Zeiten des Arabischen Frühlings eben nur mit Januskopf: mal als Rechtsstaat, mal als Polizeistaat.

Von: 
Victoria Tiemeier

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