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80. Jahrestag der Deportation der Krimtataren

Die Mär der immerwährend russischen Krim

Essay
von Leo Wigger
80. Jahrestag der Deportation der Krimtataren
Eine Gedenfeier vor der russischen Annexion 2014 anlässlich des Jahrestags der Deportation der Krimtataren Mehmed-Ali-Pascha-Archiv Magdeburg

Vor 80 Jahren ließ Josef Stalin über Nacht Hunderttausende Krimtataren deportieren. Zehn Jahre nach der russischen Annexion der Krim kämpft das muslimische Turkvolk wieder ums Überleben. Denn das Schicksal der Krimtataren stellt Moskaus Erzählung der ewig russischen Krim in Frage.

Der Spruch »Krym Nasch« zu Deutsch »Die Krim gehört uns« verbreitete sich nach der russischen Annexion der Krim 2014 sogar auf T-Shirts und Souvenirartikeln und brachte die euphorische Nationaltümelei in weiten Teilen der russischen Gesellschaft auf den Punkt. Sie zeigte sich auch in Wladimir Putins großer Rede nach dem völkerrechtswidrigen Referendum vom 18. März 2014.

 

Die von ihm proklamierte »Wiedervereinigung« Russlands mit der Krim sei schlichtweg die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung der Dinge, die Erfüllung der Wünsche der Bewohner der Krim und Ausdruck Russlands historischer Mission, schließlich habe schon Wladimir, der erste christliche Großfürst der Kiewer Rus, eines Protostaates, auf den sich Russland bis heute bezieht, hier im zehnten Jahrhundert in der byzantinischen Stadt Chersones taufen lassen. Die Krim als schon immer russischer Sehnsuchtsort.

 

Doch in seinem Schwall an historischen Referenzen vergaß Putin glatt zwei wichtige Fakten: Die immerwährend russische Krim wurde erst ab dem Jahr 1784 überhaupt erstmals Teil des Zarenreiches und damit acht Jahre nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika. Und erst seit dem Zweiten Weltkrieg stellen Russinnen und Russen überhaupt die Bevölkerungsmehrheit der Krim. Und das war kein Zufall.

 

Die Krim war seit der Antike ein Ort kosmopolitischer Kulturkontakte. Genueser und Venezianer lebten hier. Sarmaten und Alanen. Goten, Griechen und Osmanen. Hier bestand im Spätmittelalter mit dem Fürstentum Theodoro noch nach dem Fall Konstantinopels für einige Jahre ein Nachfolgestaat des Byzantinischen Reiches. Und natürlich das Khanat der Krimtataren, der sunnitischen, turksprachigen Nachkommen der Goldenen Horde und einer Vielzahl weiterer Gruppen, die für mehrere Jahrhunderte bis zur zaristischen Eroberung durch General Potemkin das Inland der Krim und die Steppen der Südukraine beherrschten.

 

Innerhalb von nur drei Tagen trieben Truppen des sowjetischen Innenministeriums unter Führung von Lawrenti Beria auf Weisung Stalins 190.000 Krimtataren in Viehwagons

 

Katharina die Große träumte von der Eroberung des gesamten Schwarzmeerraums, der Befreiung der orthodoxen Völker an seinen Ufern vom Joch der Osmanen und der Errichtung einer Neugeburt des Byzantinischen Reiches mit Sitz in Konstantinopel. Die russische Krim: Sie war schon immer Ausdruck imperialer Träume. Und ihre muslimischen Bewohner, die Krimtataren, die bis Ende des 18. Jahrhundert noch rund 95 Prozent der Bevölkerung stellten, sie passten nicht ins Bild der offiziellen Befreiungslogik.

 

Das Zarenreich siedelte gezielt Orthodoxe auf der Krim an, neben Russen auch Griechen, Ukrainer, Bulgaren und Armenier. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hatten etwa 400.000 Menschen, die Hälfte aller Krimtataren durch Vertreibung und einen Mangel an wirtschaftlichen Chancen ihre Heimat verlassen. Viele suchten ihr Glück im Osmanischen Reich. Durch Pogrome und eine verheerende Hungersnot in der frühen Sowjetzeit sank ihr Bevölkerungsanteil bis Ende der 1930er-Jahre auf nur noch rund 20 Prozent. Eine russische Mehrheit gab es jedoch auch nach dem sowjetischen Zensus von 1939 nicht. Das änderte sich erst 1944.

 

Innerhalb von nur drei Tagen trieben Truppen des sowjetischen Innenministeriums unter Führung von Lawrenti Beria auf Weisung Stalins 190.000 Krimtataren in Viehwagons zusammen und verschleppten sie aufgrund angeblich kollektiven Verrats nach Sibirien, den Ural und Zentralasien. Die Bedingungen waren so desolat, dass nach Schätzungen bis zu 45 Prozent der Deportierten in Folge der Vertreibung ums Leben kamen. Die krimtatarischen Ortsnamen, sie verschwanden von der Landkarte und wurden russifiziert. Nichts sollte mehr an die Spuren der Krimtataren erinnern.

 

Die Traumata des Sürgün (»Exil«), sie verfolgen die Familien der Überlenden bis heute und zeigen sich auch in der krimtatarischen Kultur. Mit dem Song »1944« und der Auseinandersetzung mit ihrer dramatischen Familiengeschichte gelang es der krimtatarischen Sängerin Jamala im Jahr 2016, mit einem Rekordergebnis den Eurovision Song Contest für die Ukraine zu gewinnen.

 

Nach der Annexion hätten die russischen Behörden zunächst versucht, den Medschlis zu vereinnahmen

 

Das Exil in den Weiten Eurasiens war nicht das Ende der kollektiven Leidensgeschichte. Die sowjetischen Behörden unterdrückten die krimtatarische Sprache und Kultur; staatliche Propaganda stellte sie als Verräter dar. Selbst nach dem Tod Stalins und der Aufhebung des Vorwurfs des kollektiven Verrates durften die Krimtataren erst 1989, 45 lange Jahre nach der Deportation, in ihre Heimat zurückkehren. Der Anteil der Krimtataren an politischen Gefangengen in der Sowjetunion lag außergewöhnlich hoch.

 

Einer von ihnen war Mustafa Dschemilew. Dschemilew ist ein kleingewachsener Mann mit zerfurchtem Gesicht und markantem Schnauzbart, der auch im Alter von 80 Jahren noch Kette raucht und einen Espresso nach dem anderen trinkt. Acht sind es zum Zeitpunkt unseres Interviews an einem kalten Frühjahrstag in Berlin. Doch für die Krimtataren ist er eine überlebensgroße Figur. 303 lange Tage war er im Hungerstreik – länger als jeder andere Sowjetdissident. Und überlebte.

 

Dschemilew kam 1943 – kurz vor dem Sürgün – in der Nähe der Stadt Sudak auf der Krim zur Welt. Seine Kindheit verbrachte er in Usbekistan. Er flog von der Universität, an anderen wurde gar nicht erst zugelassen. Anfang der 1960er-Jahre begann er sich für die Rechte der Krimtataren zu engagieren, gründete mit Andrej Sacharow und weiteren Dissidenten die »Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion«. Sechs Mal saß er dafür im Gefängnis oder im Gulag. Während der Perestroika kam er frei, führte die Rückkehrbewegung der Krimtataren an, die vor der russischen Annexion der Halbinsel 2014 immerhin wieder knapp 13 Prozent der Bevölkerung ausmachten, und wurde zum ersten Vorsitzenden der krimtatarischen Nationalversammlung, dem Medschlis, gewählt. Seit 1998 sitzt er zudem im ukrainischen Parlament. Und Dschemilew sagt: »So schlimm wie heute war die Situation der Krimtataren zuletzt unter Stalin.«

 

Nach der Annexion hätten die russischen Behörden zunächst versucht, den Medschlis zu vereinnahmen. »Sie dachten, sie könnten die Abgeordneten mit Geld auf ihre Seite ziehen. Aber sie kassierten eine harsche Abfuhr.« Nur wenige Führungskräfte der Krimtataren begannen zu kollaborieren. Und Moskau zog im Gegenzug die Daumenschrauben an.

 

Noch immer tagen Mitglieder des Medschlis informell auch auf der Krim

 

Der Medschlis ist in Russland seit 2016 verboten, Dschemiljev und sein Nachfolger Refat Tschubarow mit Einreisesperren belegt. Sein Stellvertreter Nariman Dschelal sitzt im Arbeitslager in Sibirien. Bis zu 50.000 Krimtataren dürften ihre Heimat seit der Annexion durch Russland wieder verlassen haben, leben nun in anderen Landesteilen der Ukraine, in Deutschland, Polen oder Irland. Bis zu 800.000 Russen könnten umgekehrt seit 2014 auf die Krim gezogen sein. Der Verlust der Heimat, der eigenen Identität: Die Krimtataren durchleben die imperialen Großmachtraumata von Katharina der Großen und Stalin unter Putin nun forciert ein drittes Mal.

 

80. Jahrestag der Deportation der Krimtataren
Sechs Mal saß Mustafa Dschemilew im Gefängnis oder im Gulag. Leo Wigger

 

Doch aufgegeben haben sie nicht. Noch immer tagen Mitglieder des Medschlis informell auch auf der Krim, berichtet Dschemilew. Selbst Telefonate seien gefährlich. Die Ukraine unterstütze die Anliegen der Krimtataren dagegen endlich mit Nachdruck. Und: Mit dem Krimtataren Rustem Umerov ist ein in der Türkei und dem Nahen Osten bestens vernetzter Ziehsohn Dschemilews seit letztem Jahr ukrainischer Verteidigungsminister. Dschemilew und andere Führer des Medschlis sind in die Krimplattform der ukrainischen Regierung eingebunden, einer diplomatischen Initiative mit dem Ziel der Befreiung der Halbinsel.

 

Langfristig strebt der Medschlis einen Autonomiestatus innerhalb der Ukraine auf der Grundlage des Rechts der indigenen Völker auf Selbstbestimmung an: »Als ich das letzte Mal mit Zelensky gesprochen habe, war er damit einverstanden«, erzählt Dschemilew. Die dafür notwendige Verfassungsreform könne bis nach dem Krieg warten.

 

Dabei seien die Beziehungen nicht immer so eng gewesen. Vor der Annexion hätte die ukrainische Armee eher die vermeintliche Gefahr durch krimtatarische Separatisten beschworen, als die echte Bedrohung durch Russland zu sehen, glaubt Dschemilew. Seit 2014 sei das anders.


Das Gespräch mit Mustafa Dschemilew führte der Autor zusammen mit der krimtatarischen Publizistin Elnara Nuriieva-Letova (Krim-Media-Plattform CEMAAT) und Dr. Mieste Hotopp-Riecke (Leiter des ICATAT, Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien und Krimtataren-Experte der GfbV (Gesellschaft für bedrohte Völker).

 

Veranstaltungshinweis Gedenkkonzert »Der gestohlene Frühling« am 18. Mai in Berlin.

Von: 
Leo Wigger

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