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Interview mit Hikmet Karčić zu Srebrenica und Aufarbeitung in Bosnien

»Nicht in einer ständigen Opferrolle gefangen bleiben«

Interview
Interview zu 30 Jahre Genozid von Srebrenica und Aufarbeitung in Bosnien

Genozid-Forscher Hikmet Karčić erklärt im Interview, warum Bosniens föderales System einer gemeinsamen Aufarbeitung im Weg steht, wie bosnische und serbische Politiker bis heute das Erbe von Srebrenica instrumentalisieren und warum ihm die Protestbewegung in Serbien Hoffnung macht.

zenith: Welche Rolle spielt das Gedenken an den Völkermord in der gegenwärtigen bosnischen Politik?

Hikmet Karčić: Wenn wir über Politik und das Gedenken an Srebrenica sprechen, sind zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens nutzen einige bosniakische Politiker Srebrenica leider als politischen Hebel. Zweitens ist Srebrenica ein zentraler Aspekt heutiger bosniakischer Identität und Politik, was positiv zu bewerten ist. Wir sprechen von Menschen, die einen Völkermord überlebt haben. 8.500 Menschen sind innerhalb weniger Tage ermordet worden – aber die befürchtete Welle von Vergeltungstaten blieb in Bosnien aus. Das heißt nicht, dass es diese Rachegefühle nicht gab. Aber das bosniakische politische und religiöse Establishment hat sich für den Weg der juristischen Aufarbeitung entschieden.

 

Das Erbe des Völkermords bleibt in Bosnien trotz der juristischen Aufarbeitung ein Thema der Gegenwart.

Die Verbrechen werden sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene geleugnet. Der Staat Serbien und die bosnischen Serben instrumentalisieren Srebrenica. Sie behaupten im Wesentlichen, keine Verbrechen begangen zu haben, obwohl die internationale Gemeinschaft die Ereignisse von vor 30 Jahren als Genozid eingestuft hat. Sie behaupten, der Völkermord sei nicht von ihnen begangen worden, sondern Ergebnis einer wilden Verschwörung, an der der Vatikan, internationale westliche Kapitalisten und die islamische Welt beteiligt waren. Das ist die serbisch-nationalistische Sichtweise. Wir haben in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg der Genozid-Leugnung erlebt, und sie ist viel stärker institutionalisiert.

 

Vor etwa einem Jahr verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution zum Völkermord und rief einen Internationalen Gedenktag aus. Hat sich das auf den Diskurs im Land und dem Balkan insgesamt ausgewirkt?

In erster Linie veranlasste die UN-Resolution die bosnischen Serben und den Staat Serbien, die sogenannte Allserbische Versammlung auf die Beine zu stellen, ein Treffen politischer Parteien und religiöser Persönlichkeiten, die daraufhin eine Erklärung verfassten, in der sie den Völkermord leugneten. Das serbische politische Establishment nutzt Srebrenica als politisches Instrument, um sich von dem von ihm begangenen Genozid zu distanzieren.

 

Wenn das Gedenken an den Völkermord Teil der bosniakischen Identität ist, ist dann die Leugnung Teil der serbischen Identität?

Genau. Die bosniakische Identität der Nachkriegszeit dreht sich um den Völkermord. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die serbische Identität auf den Zweiten Weltkrieg und die Morde im Konzentrationslager Jasenovac in Kroatien. Die Serben argumentieren, sie seien Opfer eines Völkermords, nicht die Täter. Deshalb müssen sie Srebrenica leugnen. Andernfalls würden sie die Opferrolle verlieren, die sie lange Zeit ausgenutzt haben. Einige Nationalisten argumentieren, Serben seien Opfer des Zweiten Weltkriegs gewesen und die Politik Kroatiens, der Bosniaken und der internationalen Gemeinschaft habe sich seither nicht verändert. Sie behaupten, sie seien immer noch Opfer einer Verschwörung, wie die NATO-Bombardierung Serbiens 1999 und die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo zeigen würden.

 

»Zum ersten Mal demonstrieren Bosniaken und Serben in Serbien gemeinsam gegen die Regierung«

 

Sie sagen, sowohl bosniakische als auch serbische Politiker würden den Völkermord als Verhandlungsmasse nutzen. Worin besteht ihr jeweiliges Ziel?

Viele Bosniaken fragen zurecht besorgt: Wollen wir, dass Srebrenica in einem auf Völkermord gegründeten Gebiet verbleibt? Deshalb fordern wir die Ausgliederung Srebrenicas aus der Republika Srpska. Der Bürgermeister von Srebrenica, ein Serbe, leugnete lange Zeit den Völkermord. Sie können sich vorstellen, wie frustrierend das für Menschen ist, die den Genozid mit modernsten Mitteln dokumentiert haben: DNA-Analysen, Luftaufnahmen, Bodenanalysen sowie Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien.

 

Wie geht die bosniakische Bevölkerung mit der anhaltenden Leugnung des Völkermords um?

Für uns ist es ein abgeschlossenes Kapitel. Es hat einen Völkermord gegeben. Wir haben die meisten Opfer gefunden, wenn auch nicht alle. Wir haben die Verantwortlichen identifiziert und wollen nun als Gesellschaft vorankommen, weil wir nicht in einer ständigen Opferrolle gefangen sein wollen. Die bosnisch-serbischen Nationalisten und jene in Serbien lassen das jedoch nicht zu, weil sie es weiterhin alles leugnen. Sie könnten stattdessen einfach zugeben: »Ja, es ist passiert. Wir haben es zu verantworten. Es tut uns leid. Lasst uns nach vorne schauen.« Denn viele Menschen in Bosnien möchten genau das.

 

Inwiefern überträgt sich die Rhetorik der Leugnung von der politischen auf die gesellschaftliche Ebene?

Die Menschen sind viel besorgter über die wirtschaftliche Lage, etwa die Preise für Benzin und Lebensmittel. Aber wenn man sie fragt, haben sie natürlich eine Meinung. Beispielsweise ergab eine Umfrage vor einigen Jahren in Serbien, dass viele nicht glaubten, dass die Belagerung von Sarajevo von 1992 bis 1996 jemals stattgefunden hat. Ich glaube nicht, dass die Menschen sie absichtlich leugnen wollen. Sie glauben einfach, ständig Opfer zu sein, ein Glaube, den staatliche Medien schüren. Auch wenn viele Menschen nicht ständig an den Krieg denken: Kommt er zur Sprache, wird die gesellschaftliche Kluft sichtbar.

 

Trotzdem scheint die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft auf vielen Ebenen zu funktionieren.

Das Dayton-Friedensabkommen hat auch seine Probleme, ist aber das erfolgreichste seiner Art. Dennoch sprechen wir immer noch von einer sehr gespaltenen Gesellschaft. Menschen, die viereinhalb Jahre lang gegeneinander gekämpft haben, leben und arbeiten heute zusammen. Nur zwei Kilometer vom Stadtzentrum Sarajevos entfernt liegt die bosnisch-serbische Republika Srpska, wo Menschen leben, die vor dreißig Jahren als Scharfschützen Menschen in der Stadt ins Visier nahmen und töteten. Wahrscheinlich kommen sie heute zum Einkaufen oder Kaffeetrinken in genau diese Stadt, weil sie näher liegt als Banja Luka oder Belgrad.

 

»Zum ersten Mal demonstrieren Bosniaken und Serben in Serbien gemeinsam gegen die Regierung«

 

Sie erwähnten, dass die Rhetorik kurz vor dem Jahrestag des Völkermords an Schärfe zulegt. Warum ist das so?

Die bosnisch-serbischen Nationalisten würden es vorziehen, wenn die ganze Geschichte auf Bosnien beschränkt bliebe. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Menschen im Westen über den Völkermord aufklären, der sich hier vor 30 Jahren im Herzen Europas ereignete. Genau das wollen die serbischen Nationalisten nicht. Stattdessen wollen sie Bosnien als Terrorhochburg und instabilen Staat darstellen, der sich nicht selbst regieren kann und von dem aus IS-Kämpfer nach Syrien gezogen sind. Sie spielen mit der Angst des Westens vor dem radikalen Islam. Sie suggerieren sogar, sie hätten im Krieg vor 30 Jahren gegen Al-Qaida und den IS gekämpft. Sie wollen den Eindruck erwecken, Europa einen Gefallen getan zu haben. Das passt sehr gut zur Rhetorik der Rechtsextremen im Westen.

 

Glauben Sie, dass die Massenproteste in Serbien zur zunehmend aufgeheizten Rhetorik in Bosnien beitragen, da sowohl Präsident Aleksandar Vučić als auch der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, unter Druck stehen?

Auf jeden Fall. Die wichtigsten Punkte sind hier Bosnien und das Kosovo. Was viele im Westen jedoch nicht verstehen, ist, dass alles, was in diesen Ländern passiert, Auswirkungen auf Nordmazedonien und Montenegro haben wird – und Montenegro etwa ist NATO-Mitglied. Das sind kleine Länder, die weder über einen stabilen Sicherheitsapparat noch über etablierte staatliche Institutionen verfügen. Und im Fall von Bosnien haben die Behörden scheinbar Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Serben, sollten sie den Haftbefehl gegen Dodik vollstrecken.

 

Glauben Sie, dass der Westen den Druck auf serbische Nationalisten erhöhen wird?

Wenn Vučić seitens des Westens unter Druck gerät, wird er Bosnien-Herzegowina immer als Verhandlungsmasse nutzen, um seine Ziele zu erreichen. Serbien erlebt die größten Proteste in seiner Geschichte. Die Studenten sind sehr entschlossen – und zum ersten Mal demonstrieren Bosniaken und Serben in Serbien gemeinsam gegen die Regierung. Damit hätten wir nie gerechnet.

 

Einer der Auslöser war der Dacheinsturz des Bahnhofs Novi Sad mit 16 Toten im November.

Stellen Sie sich vor: Milliardengelder wurden in diese Region gepumpt, um eine Aussöhnung voranzutreiben, doch erst der Baupfusch eines chinesischen Unternehmens an einem Bahnhof brachte eine ganze Nation zusammen. Es ist schockierend, dass der Westen überhaupt nicht reagiert und niemand die Demonstranten unterstützt hat.

 

»Genau solch einen Deal hofft Bosnien mit Trump abzuschließen«

 

Wie präsent ist der Krieg und die Erinnerung daran für die junge Generation in Bosnien?

Es ist, als würde man in den 1970er-Jahren in Deutschland aufwachsen. Für sie ist der Krieg etwas fernes, an das sie sich nicht erinnern. Sie hören hier und da Geschichten, aber sie sind meist desinteressiert. Einige begeistern sich für Militärgeschichte und ähnliches. Aber sie sind in der Minderheit. Die meisten jungen Menschen hier wollen einfach nur genug Geld verdienen, um in Cafés zu gehen oder zu reisen. Ich glaube, das liegt zum Teil am uneinheitlichen Bildungssystem. Eine ganze Generation von Schülern ist aufgewachsen, ohne etwas über den Krieg zu lernen. Das könnte in Zukunft zu Problemen führen, da die meisten dieser Kinder ihre Informationen über die Vergangenheit aus den sozialen Medien wie Instagram, YouTube und Facebook beziehen. Das könnte als Instrument zur Mobilisierung oder Manipulation genutzt werden. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass hasserfüllte Inhalte aus den sozialen Medien entfernt werden.

 

Wie wird der Völkermord in Schulen vermittelt?

Das Bildungssystem in Bosnien ist vollständig dezentralisiert. Die Republika Srpska beispielsweise gibt eigene Schulbücher heraus. Darin wird Srebrenica als »befreit« beschrieben. Im Rahmen des föderalen Systems sind solche Inhalte ohnehin sehr uneinheitlich, da zehn Kantone eben jeweils ihre eigenen Geschichtsbücher nutzen. In den Kantonen mit bosnischer Mehrheit thematisieren die Schulbücher den Völkermord. Gerade in meinen Gesprächen mit Schülern quer durchs Land wird einem bewusst, wie fragmentiert das Wissen der Menschen ist. Jemand, der im Nordwesten Bosniens geboren wurde, weiß wahrscheinlich nichts über die Kämpfe zwischen Kroaten und Bosniern in Mostar im Süden.

 

Was lässt sich Geschichtsklitterung und Desinformation über Krieg und Völkermord entgegensetzen?

Die USA haben in Bosnien viele Projekte zur Bekämpfung von Desinformation und zur Förderung freier Medien finanziert. Diese Mittel wurden jedoch in den letzten drei Monaten vollständig gekürzt. Darüber hinaus spüren wir die Abwesenheit amerikanischer Außenpolitik in der Region. Das ist sehr problematisch. Die einzige Ausnahme ist das Projekt der südlichen Pipeline zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, durch die amerikanisches Flüssiggas gepumpt werden soll. Wenn wir diese Investition an Land holen, wird sich die Situation meiner Meinung nach drastisch ändern. Denn wo immer ein amerikanisches Produkt verkauft wird, sind amerikanische Interessen vor Ort. Genau solch einen Deal hofft Bosnien mit Trump abzuschließen.


Dr. Hikmet Karčić arbeitet am Institut für die Erforschung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkerrecht der Universität Sarajevo. Das Institut wurde 1992 zu Beginn des Bosnien-Krieges gegründet und erforscht seitdem Kriegsverbrechen und deren Folgen.

Von: 
Florian Guckelsberger

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