Im Interview mit zenith spricht Mercan Kentel über die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, Graue Wölfe in Kreuzberger Läden und einen Mord, der sich einst in der Berliner Hardenbergstraße ereignete.
zenith: Warum setzen Sie sich für die Anerkennung des armenischen Völkermords ein?
Mercan Kentel: 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul auf offener Straße erschossen. Der türkische Staat war nicht daran interessiert, das Attentat aufzuarbeiten. In Berlin mobilisierte Dinks Tod viele Menschen, die sich für die umfassende Aufklärung der Hintergründe des Mordes einsetzten. Rasch kam unter den Beteiligten auch die Frage nach der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auf. Aus dieser Initiative gründete sich dann im Jahr 2014 die NGO AKEBi. Der türkische Staat und die Politik im Allgemeinen vertreten die Haltung, es habe diesen Völkermord nicht gegeben. Weite Teile der Bevölkerung in der Türkei folgen diesem Narrativ. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns in unserem Verein mit den eigenen rassistischen Tendenzen in der türkischstämmigen Community auseinandersetzen, diese hinterfragen und die eigene Geschichte aufarbeiten. Solange die Türkei die Aufarbeitung des armenischen Völkermordes verbietet, kann es auch keinen Frieden zwischen den Armeniern und muslimischen Türken geben.
Was macht AKEBi konkret, um die Vergangenheit aufzuarbeiten?
Wir organisieren geschichtsbezogene Veranstaltungen. Vor einiger Zeit haben wir bei einem Event gezeigt, wie armenische Schauspielerinnen und Regisseure das osmanische Theater sehr stark mitgeprägt haben. Da diese Vergangenheit ausgelöscht wurde, haben viele Türken davon noch nie etwas gehört. Solche Veranstaltungen bezeugen die Vielfalt und den großen Anteil der Armenier an der Kultur des Osmanischen Reiches. Erinnerungsspaziergänge erzählen unter anderem die Geschichte des Völkermords und fördern etwa die Verbindung mit Berlin und Deutschland zutage. Auf der Charlottenburger Hardenbergstraße zum Beispiel wurde einer der Hauptverantwortlichen für den Genozid an den Armeniern – Talaat Pascha – 1921 ermordet.
Inwieweit war denn das Deutsche Reich an dem Völkermord beteiligt?
Das Kaiserreich hat den Völkermord an den Armeniern mit Waffenlieferungen unterstützt. Der Genozid geschah unter deutscher Mitwisserschaft, ohne dass die Regierung dagegen etwas unternahm. Tatsächlich fanden viele der Täter später in Berlin Unterschlupf.
Woran messen Sie den Erfolg Ihrer Arbeit?
Wir verbuchen viele kleine Erfolge. Wir sind stolz auf unsere alljährliche, sehr gut besuchte Gedenkfeier zu Ehren von Hrant Dink.
»In Berlin und wahrscheinlich in ganz Deutschland folgen sehr viele AKP-Anhänger der Linie, den Völkermord nicht anzuerkennen«
Wie beeinflusst der Umgang mit dem Völkermord in der Türkei Ihre Arbeit vor Ort?
In diesem Jahr wurde der links-liberale Radiosender Açık Radyo geschlossen, weil in einem Beitrag ein Gast das Wort Völkermord in den Mund nahm und der Moderator ihn nicht korrigierte. Derzeit sammelt das Team hinter Açık Radyo Spenden und wird wahrscheinlich versuchen, einen neuen Sender zu gründen. Ohne offizielle Lizenz dürfen die Mitarbeiter ihre Beiträge auch nicht online veröffentlichen. Aus diesem Grund planen wir auch zeitnah eine Veranstaltung zu diesem Thema.
Wie geht die türkischstämmige Community in Deutschland mit dem Genozid an den Armeniern um?
In Berlin und wahrscheinlich in ganz Deutschland folgen sehr viele AKP-Anhänger der Linie, den Völkermord nicht anzuerkennen. Die rechtsnationalistische türkische Community können wir kaum erreichen und sie ist auch nicht daran interessiert, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Schränken denn rechte Nationalisten Ihre Arbeit ein?
Wir sind nie Opfer von direkten Angriffen geworden. Manche Personen äußern sich bei Veranstaltungen kritisch, aber es ist bis jetzt noch zu keiner großen Auseinandersetzung gekommen. Innerhalb des Vereins verhalten wir uns immer sehr vorsichtig. Da in Kreuzberg sehr viele nationalistisch gesinnte Türken leben, achten wir zum Beispiel darauf, dass Schilder mit Bezug zu Hrant Dink nicht von außen einsehbar sind. In unserem Verein sind auch Menschen aktiv, die aus der Türkei geflohen sind und nicht mehr zurückkehren können. Im Zuge der Neugestaltung unserer Website führten wir lange Diskussionen über die Veröffentlichung von Bildern. Manche Mitglieder wollten ihr Gesicht nicht öffentlich in Verbindung mit unseren Themen zeigen und sich dadurch in Schwierigkeiten bringen. Also manchmal haben wir schon Bedenken.
In welchen Situationen etwa?
Als wir letztes Jahr mit AKEBi an einer Demonstration gegen den Krieg in Bergkarabach teilnahmen, waren entlang der Route in den Läden viele Anhänger der Grauen Wölfe präsent. Sie zeigten den Wolfsgruß und sorgten für eine passiv-aggressive Stimmung. Wir fanden es ohnehin sehr mutig, dass das armenische Ararat-Kollektiv die Demo-Route durch Kreuzberg und über den Kottbusser Damm ziehen ließ.
»Unser Arbeitsfeld ist schon sehr einmalig und sorgt für positive Aufmerksamkeit der armenischen Community«
Wie beurteilen armenische Aktivisten Ihre Arbeit?
Ich weiß, dass wir sehr positiv wahrgenommen werden. Die enge Zusammenarbeit mit armenischen Vereinen hat sich entwickelt, weil wir unsere Arbeit gegenseitig sehr schätzen. Aktivisten aus dem Umfeld des Ararat-Kollektivs besuchen häufig unsere Veranstaltungen. Unser Arbeitsfeld ist schon sehr einmalig und sorgt für positive Aufmerksamkeit der armenischen Community.
Inwieweit erreichen Sie Menschen außerhalb der deutsch-türkischen Linken und der armenischen Gemeinschaft in Deutschland?
Daran müssen arbeiten. Wir sind ein bisschen in der Nische geblieben und das versuchen wir gerade zu ändern. Seitdem ich hier arbeite, haben wir sehr viel Material ins Deutsche übersetzt und möchten auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft ansprechen. Vor dem Jahr 2023 wurden die Veranstaltungen überwiegend auf Türkisch abgehalten. Mittlerweile ist das Verhältnis von Türkisch, Englisch, Deutsch oder mehrsprachigen Veranstaltungen ausgewogen.
Bezieht sich Ihre Arbeit nur auf das Thema Völkermord an den Armeniern?
Wir haben auch viele Veranstaltungen zum Thema antimuslimischer Rassismus organisiert. Wir versuchen auch mehr gegen Sexismus aktiv zu werden, auch wenn das nicht unserer Kernbereich ist.
Wie kann aus Ihrer Sicht die Aufarbeitungsarbeit verbessert werden?
Es wird generell zu wenig gefördert und die Förderrahmen sollten nicht so starr sein. Vor allem werden Projekte zu Rassismus, Inklusion oder Partizipation unterstützt. Das ist alles sehr wichtig, aber die Themen sind ohnehin schon sehr präsent. Manchmal schaffen wir es, unsere eigenen Ideen für Veranstaltungen an solche Förderkriterien anzupassen – oft ist das aber nicht möglich. Für die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern wird zu wenig getan, obwohl Deutschland als Mittäter eigentlich eine große Verantwortung trägt und sich seit der Bundestagsresolution im Jahr 2016 dazu offiziell bekennt. Es wäre schön, wenn der Lehrplan etwa an Berliner Schulen diesen und andere Völkermorde irgendwann als Pflichtthema im Unterricht aufnehmen würde.
Mercan Kentel