Unter dem Vorsitz Özgür Özels ist die CHP populärer als je zuvor in der AKP-Ära. Die Justiz könnte bald aber wieder den 76-Jährigen Kemal Kılıçdaroğlu einsetzen – und damit den nächsten Schritt Richtung Autokratie einleiten.
Seit mehr als zwanzig Jahren ist Recep Tayyip Erdoğan der mächtigste Mann in der Türkei. Schritt für Schritt gelang es dem gebürtigen Istanbuler, die Kontrolle über seine Partei, die größten Medienhäuser und schließlich den ganzen Staatsapparat inklusive Justiz und Militär zu erlangen. Aus Sicht der Regierung fehlt lediglich ein Puzzleteil, um die »Neue Türkei« zu vervollständigen: eine loyale Opposition.
Immer wieder bemängeln Vertreter der Allianz aus Erdoğans AKP und der nationalistischen MHP, dass die Opposition noch in alten Denkmustern verfallen sei. Der Präsident selbst formulierte es 2023 so: »Das größte Problem der Türkei ist, dass es keine oppositionelle Kraft gibt, die visionär, programmatisch und projektorientiert ist. Alles in unserem Land haben wir verändert, nur die Opposition konnten wir nicht verändern. Ich glaube, dass diese Wahlen den Wandel herbeiführen werden, auf den wir seit Jahren warten.«
Tatsächlich stellen die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 für die größte Oppositionspartei, die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, einen Wendepunkt dar – wenn auch nicht so, wie der Präsident es sich wahrscheinlich erhofft hat. Nie zuvor in den mehr als zwei Jahrzehnten AKP-Herrschaft hatten die von Atatürk gegründete Partei und ihre Anhänger sich so hohe Siegeschancen ausgerechnet. Umso größer fiel die Enttäuschung aus, als die Regierungsallianz bestehend aus AKP und der nationalistischen MHP nicht nur erneut eine Mehrheit im Parlament gewann, sondern auch Präsident Erdoğan für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt wurde.
Verantwortung für die Wahlniederlage übernahm jedoch niemand. Große Teile der Anhängerschaft waren frustriert, schließlich hat das vom CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu initiierte Bündnis kaum neue Wähler überzeugen können, dafür 39 der 169 Parlamentssitze über die CHP-Liste an vier Kleinstparteien von ehemaligen AKP-Granden und Islamisten abgegeben. Kritiker monierten, dass der sogenannte Sechsertisch in einer Art Kuhhandel in erster Linie Kılıçdaroğlus Kandidatur gegen die populären Oberbürgermeister von Istanbul und Ankara sicherte.
Von Rücktritt wollte Kılıçdaroğlu allerdings nichts hören. »Wenn nötig, organisiere ich nächstes Mal einen Tisch mit 16 Parteien«, versprach er kämpferisch, als mit der İYİ-Partei der größte Partner bereits mit der CHP gebrochen hatte. Auch große Teile der Parteieliten vermieden es, sich gegen den mächtigen Vorsitzenden aufzulehnen, der über Posten und Kandidaturen entscheiden kann. Lediglich der populäre Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu plädierte schon früh für eine personelle und strategische Neuausrichtung seiner Partei. Schließlich konnte er den Fraktionsvorsitzenden Özgür Özel für eine Kandidatur auf den Parteivorsitz gewinnen, welcher sich beim Parteitag im November 2023 gegen den Amtsinhaber durchsetzen konnte – ein Novum in der 100-jährigen Geschichte der Partei.
Die neue Nummer eins
Von 2002 bis 2023 hat die AKP bei sieben Parlaments- und vier landesweiten Kommunalwahlen die meisten Stimmen erhalten, immer mit mindestens zweistelligem Vorsprung vor der CHP. Hinzu kommen drei gewonnene Präsidentschaftswahlen für Recep Tayyip Erdoğan und drei erfolgreiche Verfassungsreferenden. Bei den Kommunalwahlen 2024 wollte die Partei insbesondere in Istanbul und anderen Großstädten wieder die Kontrolle über die Stadtverwaltung – und damit auch über gewaltige finanzielle Mittel – erlangen. Da AKP und MHP im Gegensatz zur Opposition in allen Großstädten gemeinsame Kandidaten nominierten, standen die Chancen für die Regierungsparteien gut, die eigene Macht weiter zu festigen.
Überraschenderweise stellten die Wahlen die politische Rangfolge aber auf den Kopf. Die CHP gewann nicht nur erstmals seit 1977 landesweit die meisten Stimmen (37.8 Prozent), darüber hinaus konnten die Kemalisten auch in zahlreichen AKP-Hochburgen im ganzen Land gewinnen. In einigen der größten Provinzen des Landes erreichten CHP-Kandidaten gar Vorsprünge im zweistelligen Bereich: in Ankara, Mersin und Özels Heimat Manisa mit bis zu 30 Prozentpunkten Abstand gegenüber dem jeweiligen Kandidaten der Regierungsallianz. Auch in den meisten Umfragen liegt die CHP seitdem vorne.
Die neue Parteiführung um Özel steht nicht nur für Erfolg und eine neue Generation in der türkischen Politik, sondern auch für Konfrontation statt staatstragendem Kurs. Der Politologe Behlul Özkan schreibt über die Kılıçdaroğlu -Ära: »In Krisenzeiten dient die CHP dazu, wie das Kontrollventil auf einem Dampfkochtopf die oppositionellen Kräfte zu beruhigen und den Status quo zu erhalten, ohne einen Aufstand auszulösen.«
Ob durch Zurückhaltung bei den Gezi-Protesten 2013, bei der Aufhebung der Immunität von Selahattin Demirtaş und anderer kurdischer Politiker 2016, das Akzeptieren des Verfassungsreferendums 2017 trotz Regeländerungen während des Wahlvorgangs – der ehemalige Beamte und Bürokrat Kılıçdaroğlu wählte in Schlüsselmomenten immer wieder einen staatstragenden Kurs. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2023 wies er Forderungen einer Klage gegen Erdoğans Kandidatur für eine dritte Amtszeit zurück, obwohl die Verfassung diese auf zwei begrenzt. Auch die Proteste gegen İmamoğlus zweijährige Haftstrafe wegen Beleidigung (diese wurde allerdings noch nicht durchgesetzt) erstickte Kılıçdaroğlu im Keim – die Antwort sollte stattdessen Monate später an der Wahlurne folgen.
Die neue Haltung der CHP kommt besonders seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu am 19. März zum Vorschein. Die Parteiführung hat die Protestwelle sofort aufgegriffen und veranstaltet regelmäßig Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus, in anderen Istanbuler Bezirken und auch außerhalb der Metropole. Sogar in der Provinz sind die CHP-Kundgebungen in Solidarität mit dem 55-Jährigen inzwischen ein großer Erfolg – Bilder von Özel auf dem Traktor im zentralanatolischen Yozgat gingen zuletzt etwa viral. Außerdem bezeichnet der Parteichef die Regierung als Junta und ruft zu Boykotts AKP-naher Unternehmen auf. Im Gegensatz zum intransparenten Verfahren 2023 ließ die CHP ihren Kandidaten für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2028 bereits im März durch öffentliche Vorwahlen bestimmen. Laut Partei haben dabei 15 Millionen Bürger für den vier Tage vorher verhafteten İmamoğlu gestimmt.
»Ist es etwa besser, wenn ein Zwangsverwalter übernimmt?«
Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass der jahrelang erfolglose und inzwischen 76-jährige Kılıçdaroğlu keine Rolle mehr spielt. Doch in den vergangenen Wochen wird kaum ein Thema so heiß diskutiert wie eine Rückkehr des ehemaligen Vorsitzenden. Vage Gerüchte über angeblich bestochene Delegierte beim Parteitag im November 2023 kursieren in manchen Kreisen schon lange, doch inzwischen ist auch die Justiz eingeschaltet. Einer der Kläger ist ausgerechnet Lütfü Savaş. Der ehemalige Oberbürgermeister von Hatay ist seit dem Erdbeben vom 6. Februar 2023 äußerst unbeliebt. Dennoch stellte Özel ihn 2024 noch einmal auf – und Savaş verlor als einziger amtierender CHP-Bürgermeister einer Metropolregion seinen Posten. Jetzt fordern Savaş’ Anwälte eine Wiedereinsetzung Kılıçdaroğlus, da dieser laut Anklageschrift das Opfer des Verbrechens sei.
Um dem zuvorzukommen, organisierte die CHP-Führung bereits im April einen außerordentlichen Parteitag, bei dem sie erneut zur Wahl stand. Kılıçdaroğlu verzichtete auf eine aussichtslose Kandidatur. Ein Gericht in Ankara legt allerdings inzwischen die Klagen gegen beide Parteitage zusammen. Im Raum steht eine komplette Annullierung. Mögliche Folgen: die Einsetzung eines staatlichen Verwalters – oder die Rückkehr Kılıçdaroğlus. Viele CHP-Politiker und Sympathisanten forderten daher ein klares Statement gegen die Absetzung der aktuellen Parteiführung. So versuchten auch die Bürgermeister von Ankara, Izmir und Mersin ihren ehemaligen Vorsitzenden davon zu überzeugen – jedoch ohne Erfolg. Die politische Dimension des Verfahrens wird auch daran deutlich, dass eigentliche die hohe Wahlkommission für solche Fälle zuständig wäre. Doch die hatte zwei Wochen nach dem außerordentlichen Parteitag im April bereits eine Klage abgelehnt.
Kılıçdaroğlu äußerte sich erst wenige Tage vor der erwarteten Urteilsverkündung. »Ich hoffe, dass solch ein Urteil nicht gefällt wird. Ich verstehe aber die große Angst nicht. Wäre es etwa besser, wenn ein Zwangsverwalter eingesetzt würde? Wenn ich dazu den Anlass geben würde, würden sie mir vorwerfen: Du hast die Partei 13 Jahre lang geführt und so etwas zugelassen.« Sein Rückhalt in der Partei ist allerdings gering. Nur zehn der von Kılıçdaroğlu handverlesenen Abgeordneten unterstützen öffentlich seine Rückkehr für den Fall, dass das Gericht die beiden Parteitage für nichtig erklären sollte.
Wie geht es weiter?
Inzwischen ist die Urteilsverkündung auf den 8. September vertagt worden. Für die Regierung bedeutet da s, dass sie sich zunächst weiter von dem Verfahren distanzieren kann – dies sei schließlich nur die natürliche Folge der Zerstrittenheit und Korruption innerhalb der CHP. Außerdem sind die Diskussionen über Kılıçdaroğlu und interne Rivalitäten eine wohlwollende Ablenkung vom Thema İmamoğlu, der nun seit mehr als 100 Tagen in Untersuchungshaft sitzt. Die CHP wiederum verbleibt weiter im Unklaren.
Bisher hat die Justiz ihren Fokus auf die Istanbuler CHP rund um den Erdoğan-Widersacher İmamoğlu gelegt. Neben dem Istanbuler Oberbürgermeister wurden zahlreiche weitere Amtskollegen auf Distriktebene sowie Politiker und Beamte in der Stadtverwaltung verhaftet. Doch je länger die Parteiführung an ihrem Kandidaten festhält, desto wahrscheinlicher werden auch Verfahren gegen andere CHP-Verbände. Ende Juni warnte Präsident Erdoğan, dass die Situation in anderen Provinzen ebenfalls eine »Katastrophe« sei. Und schon am Tag nach der Verschiebung des Urteils zu den CHP-Parteitagen ließ die Staatsanwaltschaft auch den ehemaligen Bürgermeister von Izmir aufgrund sehr ähnlicher Vorwürfe wie in Istanbul verhaften.
Der Journalist Murat Sabuncu fasst die Strategie der Regierung daher so zusammen: »Nicht nur İmamoğlu steht im Visier, sondern auch die CHP als Institution. Das Ziel ist eine Opposition ohne Straße, ohne Widerstand – eine zahme, gemäßigte Opposition.« Ahmet Şık, Abgeordneter der Arbeiterpartei, geht sogar so weit, dass eine Rückkehr Kılıçdaroğlus gleichbedeutend mit dem Ende der Wahlurne wäre. »Ich befürchte, dass diese Regierung sich nicht mehr durch Wahlen austauschen lässt. Erdoğan sagt: Wahlen lasse ich durchführen, wenn ich meinen Gegner aussuchen kann.«
Politikwissenschaftler bezeichnen die Türkei schon lange als kompetitiv-autoritäres Regime. Wahlen finden zwar statt und Stimmen werden im Großen und Ganzen auch fair gezählt, allerdings ist der Wettbewerb in einem so hohen Maße ungleich, dass die Opposition kaum realistische Siegeschancen hat. Eine beliebte Metapher ist die eines Fußballspiels, bei dem eine Mannschaft mit neun Spielern antreten muss und der Schiedsrichter auch noch parteiisch ist. Sollte das Gericht tatsächlich die gewählte CHP-Führung entmachten, dann darf Erdoğan auch die gegnerische Aufstellung aussuchen.
Die Reinstallation Kılıçdaroğlus hätte aus Perspektive der Regierung zweierlei Vorteile. Zum einen hätte er größere Befugnisse als ein Zwangsverwalter, zum anderen wäre es kein ganz so radikaler Schritt, der auch die eigene Legitimation weiter untergraben könnte. Bei der Verhaftung İmamoğlus hatte die Regierung die heftige öffentliche Gegenreaktion und die klare Haltung der CHP vermutlich unterschätzt.
Wie das Gericht entscheiden wird, ist unklar und hängt vermutlich auch von den Entwicklungen der nächsten Monate ab. Klar ist aber, dass die Regierung weiter versuchen wird, die Opposition und den politischen Wettbewerb zu den eigenen Gunsten zu gestalten. Dass dabei ausgerechnet der langjährige Oppositionsführer eine Schlüsselrolle einnehmen könnte, ist für viele Anhänger enttäuschend. Noch 2023 betitelten viele Journalisten den Präsidentschaftskandidaten als »türkischen Gandhi«. Inzwischen werden in der Türkei Stimmen lauter, die Kılıçdaroğlu als Kollaborateur bezeichnen.