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Regierungskrise und Wehrpflicht in Israel

Zerfällt Netanyahus Koalition?

Analyse
Ultra-Orthodoxe und Wehrpflicht in Israel
Wie sehr würde die Integration der Haredim die israelischen Streitkräfte verändern? IDF

Nie hatten Israels Ultraorthodoxe so viel Einfluss in Staat und Gesellschaft. Warum drohen die ultraorthodoxen Parteien dann damit, die Regierung Netanyahu zu verlassen?

Benjamin Netanyahu bekleidet den Posten des Premierministers seit insgesamt 17 Jahren und damit trotz Unterbrechungen länger als jeder Regierungschef zuvor – inklusive Staatsgründer David Ben Gurion. Der 7. Oktober, der tödlichste Tag für Juden seit dem Holocaust, 58 Geiseln, die seit über 600 Tagen im Gazastreifen gefangen gehalten werden, Massenproteste gegen den Abbau des Rechtsstaats, ein laufendes Gerichtsverfahren aufgrund von Korruptionsverdacht, eine Völkermordklage vor dem Internationalen Gerichtshof, zwei Haftbefehle wegen möglicher Kriegsverbrechen, ein verwüsteter Gazastreifen mit zehntausenden Toten und die zunehmende internationale Isolation Israels – all das, und die Liste ließe sich fortführen – brachte Netanyahus Regierungskoalition nie ernsthaft in Gefahr.

 

Doch am Vormittag des 4. Junis ging plötzlich alles ganz schnell. Während der Premierminister versuchte, sich im Gerichtssaal gegen die Korruptionsvorwürfe im laufenden Prozess gegen ihn zu wehren, sorgte der litauisch-orthodoxe Rabbiner Moshe Hillel Hirsch für Aufsehen. Er wies mit Moshe Gafni den Vorsitzenden der Partei Yahadut HaTora (»Vereinigtes Thora-Judentum«) an, die Regierungskoalition zu verlassen. Der führende aschkenasische Rabbiner Dov Landau folgte diesem Schritt zwar nicht, ordnete aber an, stattdessen für eine mögliche Auflösung der Knesset – und damit Neuwahlen – zu stimmen.

 

Grund für diese Anweisungen ist der anhaltende Konflikt um eine Neuregelung der Befreiung ultraorthodoxer Jugendlicher von der Wehrpflicht. Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs im Sommer letzten Jahres legte fest, dass auch Ultraorthodoxe Dienst an der Waffe leisten müssen. Dieses Urteil fällte das Gericht, nachdem ein Gesetz, welches die Ausnahme bisher regelte, 2023 ausgelaufen war. Seitdem konnte sich die Koalition auf keine neue Regelung einigen, die den Konflikt, der in der israelischen Gesellschaft schon seit Jahrzehnten schwelt, befrieden würde.

 

Innerhalb der Koalition sind es Teile des Likud, allen voran der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Juli Edelstein, sowie Teile des religiös-zionistischen Spektrums rund um Finanzminister Bezalel Smotrich, die auf die Ausweitung der Wehrpflicht pochen. Laut Medienberichten fordert Juli Edelstein auch die Ausweitung von Strafmaßnahmen, falls Ultraorthodoxe trotz Einberufungsbescheid dem Dienst fernbleiben, etwa die Streichung von Wohnzuschüssen, Ermäßigungen im öffentlichen Nahverkehr, aber auch ein Verbot, das Land zu verlassen oder den Führerschein zu machen. Außerdem fordert der Likud-Abgeordnete, innerhalb von fünf Jahren pro Jahrgang 50 Prozent der wehrpflichtigen Ultraorthodoxen in kämpfende oder kampfnahe Einheiten einzuziehen. Für die zwei ultraorthodoxen Parteien innerhalb der Koalition – die aschkenasische Yahadut HaTora und die mizrachische Schas – sind diese Forderungen ein rotes Tuch.

 

Damit wären höchstwahrscheinlich die Ausnahme vom Wehrdienst und viele andere Privilegien Geschichte

 

Allerdings reichen die sieben Abgeordneten von Yahadut HaTora nicht aus, um die 68 Abgeordneten starke Koalition zu Fall zu bringen, denn es verbleiben weiterhin 61 Parlamentarier in dem Bündnis. Damit würde die Koalition weiterhin über eine haarscharfe Mehrheit von einer einzigen Stimme verfügen. Damit die Regierung endgültig zerbricht, müsste auch die mizrachische Schas unter der Führung von Arye Deri nachziehen.

 

Der geistige Anführer der Schas, der Rabbiner Yitzchak Yosef, hat jedoch bereits erklärt, dass, wenn bei dem Wehrdienstgesetz keine Einigung erzielt werde, Wahlen abgehalten werden sollen. Anders als Gafni, der bei der Eröffnung des Finanzausschusses, welchen er leitet, sagte, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass es sich um die letzte Sitzung unter seiner Leitung handeln könnte, äußerte Deri sich bisher nicht. Folgen die Abgeordneten der Schas ihrem religiösen Oberhaupt, würde die Koalition elf Stimmen verlieren – die Regierung hätte dann keine eigene Mehrheit.

 

Das Kalkül der Ultraorthodoxen wirkt im ersten Moment paradox. Unter kaum einer anderen Regierung genossen ihre Parteien und die Öffentlichkeiten, die sie vertreten, derart viele politische und finanzielle Privilegien. Die jüngste Umfrage der Nachrichtenseite Walla zeigt auch, dass bei Neuwahlen die Regierungskoalition ihre Mehrheit klar verlieren würde. Die Opposition könnte – ohne Beteiligung der ultraorthodoxen Parteien – eine knappe Regierungsmehrheit mit 61 Sitzen erringen. Damit wären höchstwahrscheinlich die Ausnahme vom Wehrdienst und viele andere Privilegien Geschichte, wie die quasi nicht existente staatliche Einmischung trotz staatlicher Ko-Finanzierung im Bildungswesen. Noch größer wäre die Mehrheit, wenn der ehemalige Kurzzeitpremier Naftali Bennett ebenfalls antritt, was als sehr wahrscheinlich gilt. Mit seiner Partei »Bennett 2026«, die sich derzeit noch im Aufbau befindet, käme die Koalition laut der Umfrage von Walla auf eine komfortable Mehrheit von 66 Sitzen.

 

Gelingt das nicht, macht die weitere Teilnahme an der Regierung aus ihrer Perspektive keinen Sinn

 

Warum also eine Regierung verlassen, in der man die Privilegien der Ultraorthodoxen so effektiv durchsetzen konnte wie nie zuvor? In einem Interview mit dem Nachrichtensender N12 erklärte es der Politik-Korrespondent der ultraorthodoxen Zeitung Kikar HaShabbat Yishai Cohen die Problematik folgendermaßen: Politische Überlegungen nach einer Regierungsalternative beschäftigen vielleicht die Abgeordneten Gafni und Deri, aber nicht die dahinterstehenden Rabbiner. Laut Cohen ist aus deren Sicht allein der Fakt, dass Ultraorthodoxe in der Knesset sitzen und sich an der Regierung beteiligen, eine Anomalie. Die einzige Aufgabe von Gafni, Deri und ihren Abgeordneten sei es, die Lernenden in den ultraorthodoxen Jeschiwot zu schützen – etwa vor dem Wehrdienst. Gelingt das nicht, macht die weitere Teilnahme an der Regierung aus ihrer Perspektive keinen Sinn.

 

Oppositionsführer Yair Lapid von der der liberalen Partei Yesh Atid kündigte bereits an, gemeinsam mit der säkular-rechten Partei Israel Beytenu am 11. Juni einen Antrag auf Auflösung der Knesset zur Abstimmung zu stellen. So hat Netanyahu noch genau eine Woche, um seine Regierung zu retten.

 

Bleibt die Frage nach Ansetzung von Neuwahlen. Über den Antrag zur Auflösung der Knesset muss in vier Lesungen abgestimmt werden. Dies kann innerhalb eines Tages erfolgen oder auch mehrere Wochen und Monate dauern. Lapid warf Netanyahu bereits am 4. Juni vor, auf Verzögerungstaktiken zu setzen. Netanyahu wolle sich in die Sommerpause retten, die Ende Juli beginnt. So würde er die Auflösung der Knesset bis zum Ende der Sommerpause im Oktober enorm erschweren. Eine anonyme Quelle innerhalb der ultraorthodoxen Parteien jedenfalls sagte der Haaretz-Journalistin Ravit Hecht am 4. Juni, dass die aktuelle Krise »nach dem Anfang vom Ende aussieht«. Wann dieses Ende kommt, bleibt unklar – aber es erscheint immer wahrscheinlicher, dass es noch vor den nächsten regulär angesetzten Wahlen im Oktober 2026 kommt.

Von: 
Ignaz Szlacheta

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