Der Fall Anas Al-Sharif folgt einem Muster: Israel lässt kritische Journalisten systematisch diskreditieren, um deren Tötung zu rechtfertigen.
»Wenn euch diese Worte erreichen, dann wisst ihr, dass Israel es geschafft hat, mich zu töten und meine Stimme zum Schweigen zu bringen«, schrieb Anas Al-Sharif bereits im April. Immer wieder hatte der Reporter die internationale Gemeinschaft auf seine und die Lage seiner Berufskollegen aufmerksam gemacht und Schutz für palästinensische Journalisten im Gazastreifen eingefordert. Auch das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hatte sich bereits im Juli besorgt um das Leben des 28-Jährigen gezeigt, nachdem IDF-Sprecher Avichay Adraee den Al-Jazeera-Korrespondenten als Hamas-Terroristen verunglimpft hatte.
In der Nacht vom 10. auf den 11. August war Anas Al-Sharif gemeinsam mit fünf seiner Kollegen bei einem israelischen Luftangriff getötet worden, angeordnet vom Oberbefehlshaber der israelischen Luftwaffe, Tomer Bar. Unter den Getöteten waren die Korrespondenten Muhammad Qreiqeh, der Kameramann Ibrahim Zaher sowie die Journalisten Muhammad Noufal, Muhammad Al-Khaldi und Moamen Aliwa. Neben dem Al-Jazeera-Team soll auch ein Neffe von Anas Al-Sharif getötet worden sein.
Die Journalisten hatten sich in einem provisorischen Zelt nahe dem Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt aufgehalten – ihr provisorischer Arbeitsplatz. Angaben der Gewerkschaft Palästinensischer Journalisten (PJS) zufolge sind in Gaza bis Ende 2024 insgesamt 70 Medieneinrichtungen teilweise oder vollständig zerstört worden, darunter Verlags- und Redaktionsräumlichkeiten von Radio- und Fernsehsendern und Nachrichtenagenturen, aber auch Sendemasten und Journalistenschulen. So sind Journalisten in der Regel dazu gezwungen, ihre Arbeit in Notunterkünften fortzuführen, auch aufgrund der schlechten Internetverbindung. Über 270 Journalisten hat Israel nach Angaben des CPJ bislang getötet.
Eben jenem Bericht folgt die vom CPJ angeprangerte Diffamierung seitens IDF-Sprecher Avichay Adraee wenige Tage später
Anas Al-Sharif wurde 1996 im Geflüchtetenlager Jabaliya im Norden des Gazastreifens geboren und wuchs dort auch auf. Nach einem Studium der Kommunikationswissenschaft an der Al-Aqsa-Universität arbeitete er als freischaffender Fotograf für palästinensische und internationale Medien. 2024 wurde er gemeinsam mit Kollegen der Nachrichtenagentur Reuters mit dem Pulitzer-Preis für aktuelle Fotoberichterstattung ausgezeichnet. Im Dezember 2023 erreichte er mit seinen Live-Videos auf seinem Social-Media-Kanal nach den verheerenden israelischen Luftschlägen, die Jabaliya in weiten Teilen dem Erdboden gleichmachten und auch seinen Vater das Leben kostet, ein Millionenpublikum und wurde daraufhin vom katarischen Sender Al-Jazeera als Korrespondent angestellt.
Seitdem war der Fotojournalist auch vor der Kamera zu sehen. Das Leid der Zivilbevölkerung durch Bombardierung und Aushungerung setzte ihm sichtlich zu. Immer öfter brach der Journalist vor laufender Kamera zusammen: Als er am 20. Juli bei einer weiteren Schalte angesichts des menschlichen Leids um sich herum nicht mehr an sich halten konnte und in Tränen ausbricht, hört man im Hintergrund Jemanden rufen: »Mach weiter, Anas. Du bist unsere Stimme«. In den darauffolgenden Tagen gerät er abermals ins Visier des israelischen Militärs: Denn gerade dieses Live-Video macht den andauernden Genozid – unter anderem durch den Einsatz von Hunger als Waffe – und zugleich die wichtige Rolle von Journalisten vor Ort bei der Dokumentation dieser Verbrechen sichtbar. Eben jenem Bericht folgt die vom CPJ angeprangerte Diffamierung seitens IDF-Sprecher Avichay Adraee wenige Tage später, der dafür eigens einen Post vom Oktober 2024 noch einmal auf der Plattform X teilt.
In einem Interview vom 13. August 2025 berichtete die Mutter von Anas Al-Sharif, dass ihr Sohn jede Möglichkeit, Gaza zu verlassen, vehement ausgeschlagen hatte. Erst als sich die Drohungen auch gegen seine Frau und seine Kinder richteten, wandte er sich drei Tage vor seiner Ermordung mit einem schriftlichen Hilfegesuch an die Gewerkschaft Palästinensischer Journalisten (PJS), die diesen anschließend veröffentlichte.
Das Handy des Journalisten wurde rund um die Uhr getrackt und jeder seiner Schritte verfolgt. Umso unglaubwürdiger ist die Behauptung des israelischen Militärs, Anas Al-Sharif sei ein Hamas-Terrorist gewesen
Die Einschüchterungsversuche seitens des israelischen Militärs macht der Journalist immer wieder öffentlich. Regelmäßig erhält Anas Al-Sharif auch Drohungen auf seinem Mobiltelefon, mal per Anruf, mal per Kurznachricht. Das Handy des Journalisten – und so ergeht es vielen palästinensischen Journalisten – wurde rund um die Uhr getrackt und jeder seiner Schritte verfolgt. Umso unglaubwürdiger ist die Behauptung des israelischen Militärs, Anas Al-Sharif sei ein Hamas-Terrorist gewesen. Das sehen auch Berufskollegen so – auch im Ausland. »Die Vorstellung, dass jemand sich als Journalist ausgibt, indem er zwei Jahre lang jeden Tag rund um die Uhr live berichtet, aber in Wirklichkeit heimlich ein Terrorist ist, die ist so absurd, dass sie deutlich macht, wie viel Macht Israel sich selbst zuspricht«, schrieb etwa der US-Journalist Ryan Grim in einem Post auf seinem X-Account.
Auch der Zeitpunkt von Al-Sharifs Tötung wirft Fragen auf: Der palästinensische Analyst Muhammad Shehada vom European Council on Foreign Relations (ECFR) schrieb in einem Gastbeitrag für das Magazin +972 vom 15. August 2025, dass die Ermordung von Al-Sharif in direktem Zusammenhang mit der israelischen Invasion von Gaza-Stadt stehe. Das israelische Militär hat am 17. August – sieben Tage nach der Ermordung der Journalisten – mit einer groß angelegten Bombardierung des Viertels Al-Zaytoun in Gaza-Stadt begonnen, der erste Schritt für eine vollständige Einnahme und dauerhafte Besetzung des Gazastreifens. In einem Post auf X, nur wenige Stunden vor seiner Ermordung, hatte Al-Sharif vor genau diesem Szenario gewarnt.
Die gezielte Tötung von Journalisten in Gaza ist längst zur Teil der israelischen Kriegsführung geworden und folgt hierbei immer einem Muster, das der israelische Journalist und Co-Produzent von »No Other Land«, Yuval Abraham, in einer Investigativ-Recherche für das Onlinemagazin +972 vom 14. August aufdeckt: So betreibe das israelische Militär eine Spezialeinheit, die unter dem Namen »Legitimationszelle« operiert und nach dem 7. Oktober 2023 gegründet wurde. Formal sammelt die Einheit ebenso wie andere geheimdienstliche Abteilungen Informationen etwa zu Waffenverstecken. Was sie aber laut Abraham unterscheidet, ist eben nicht bloße Feindaufklärung, sondern geradezu die Feinderschaffung: Das Ziel bestehe vor allem darin, internationale Kritik etwas entgegenzusetzen, indem getötete Journalisten als Hamas-Funktionäre diffamiert werden, um deren Tötung zu rechtfertigen.
Anhand der Bombardierung des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt am 17. Oktober 2023 veranschaulicht Abraham exemplarisch das Vorgehen
In das Portfolio der »Legitimationszelle« fällt auch die Verdrehung von Tatsachen, um etwa Angriffe auf humanitäre Einrichtungen den Anschein von Legitimität zu verleihen. Anhand der Bombardierung des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt am 17. Oktober 2023 veranschaulicht Abraham exemplarisch das Vorgehen: Israels Behauptung, das Krankenhaus sei durch eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad bombardiert worden, stützte sich auf ein veröffentlichtes Telefonat zweier angeblicher Hamas-Funktionäre. Später stellte sich laut Abrahams Erkenntnissen heraus, dass das aufgezeichnete Gespräch zwischen einem palästinensischen Menschenrechtsaktivisten und dessen Bekannten in einem ganz anderen Kontext stattgefunden hatte. Laut Abraham erreichte die von der »Legitimationszelle« konstruierte Version des Hergangs nicht nur das Ziel, Israels internationale Reputation aufrechtzuerhalten, sondern sollte auch die Glaubwürdigkeit des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza untergraben. Denn das hatte zuvor von einem israelischen Luftangriff berichtet.
Im Fall Anas Al-Sharif veröffentlichte das israelische Militär ein Selfie mit Yahya Sinwar, freilich ohne jeglichen Kontext – sowie ein angeblich internes Dokument der Hamas, das ihn als registrierten Kämpfer listet. Auch die BBC hatte berichtet, dass Al-Sharif vor seiner Tätigkeit bei Al-Jazeera in der Medienabteilung der Hamas tätig war – eine Behauptung, die bislang nirgends unabhängig verifiziert wurde.
Solch eine Vorgehensweise lässt sich auch im Fall von Ismail Al-Ghoul erkennen: Der Al-Jazeera-Korrespondent wurde am 31. Juli 2024 gemeinsam mit seinem Kameramann Rami Al-Rifi durch einen israelischen Luftschlag auf das Geflüchtetenlager Al-Shati auf ihrem Weg Richtung Al-Ahli Krankenhaus getötet – dabei war das Auto der beiden klar als Pressefahrzeug gekennzeichnet. Im Falle von Al-Ghoul wiesen die vom israelischen Militär dargelegten Beweise inhaltliche Widersprüche auf: So soll ein Dokument aus dem Jahre 2021 – angeblich aus einem Computer der Hamas extrahiert – bestätigen, dass Al-Ghoul 2007 seinen militärischen Rang erhalten hat. Dabei war der 1997 geborene Journalist zu diesem Zeitpunkt gerade mal 10 Jahre alt. Des Weiteren wurde Al-Ghoul am 18. März 2024 – vier Monate vor dessen Tötung – von israelischen Soldaten während der Stürmung des Al-Shifa-Krankenhauses verhaftet und nach 12 Stunden Verhör wieder entlassen. Ein hochrangiger Hamas-Funktionär wäre wohl kaum so schnell auf freien Fuß gekommen.
Mit der angekündigten Großoffensive und der anschließenden Besetzung schafft Israel die Bedingungen, den Norden des Gazastreifens komplett zu entvölkern
Viele deutschsprachige Medien übernehmen das Narrativ der israelischen Regierung dennoch unkritisch: Neben einem diffamierenden Beitrag der BILD-Zeitung am 11. August 2025, erklärte auch Lars Hansen, Vorsitzender der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), dass Al-Sharif ein »schlechter Journalist, weil einseitig« gewesen sei, es jedoch trotzdem »nicht akzeptabel sei, wenn der Tod von Journalisten billigend in Kauf genommen wird«. ZDF Heute spricht davon, dass »Israel darlegen müsse, warum die Tötung notwendig war«. Kritik weicht auch hier der Suche nach einer Rechtfertigung.
Andere seriöse Medien, darunter auch die österreichische Wochenzeitung Falter, verurteilen die Tötung Al-Sharifs zwar, versuchen die Arbeit des Journalisten aber durch vermeintliche private Verbindungen zur Hamas zu diskreditieren. Als Beweislast dienen Selfies mit hochrangigen Hamas-Kommandeuren, deren Entstehung und Kontext nicht bekannt sind, sowie Social-Media-Posts ohne Quellenangaben – insgesamt also eine gelinde gesagt dünne Faktenlage. Abgesehen davon, dass nicht nur das CPJ, sondern nahezu alle Menschenrechtsorganisationen unisono und unzweideutig die Vorwürfe des israelischen Militärs zurückweisen.
Die Tötung von Anas Al-Sharif und seiner Kollegen markiert vor allem auch eine neue Stufe im fortlaufenden Genozid: Der Journalist und sein Team zählten zu den letzten verbliebenen Reportern im Norden, die den Krieg gegen die Zivilbevölkerung und die vorsätzliche Zerstörung von Eigentum und Infrastruktur dokumentierten. Mit der angekündigten Großoffensive und der anschließenden Besetzung schafft Israel die Bedingungen, den Norden des Gazastreifens komplett zu entvölkern.