Die Abkehr der USA von Europa veranlasst die Türkei, die EU-Mitgliedschaft wieder die Agenda zu setzen. Doch Ankaras Vorstoß lässt in Griechenland und Zypern die Alarmglocken läuten.
In dieser Entschiedenheit ist das Vorgehen des türkischen Präsidenten neu: Wiederholt hat Recep Tayyip Erdoğan zuletzt die Dringlichkeit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei betont. »Bei jeder Gelegenheit unterstreiche ich, dass dies unser strategisches Ziel ist«, erklärte Erdoğan zuletzt anlässlich des Besuchs des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk in Ankara.
Ohne Zurückhaltung und mit kaum zu überhörender Geringschätzung für die europäische Staatenfamilie, der er sich anschließen will, ergänzte Erdoğan: »Wenn die EU ihren Machtverlust verhindern will, kann sie das nur durch eine Vollmitgliedschaft der Türkei erreichen.«
Ankaras Drängen in den Klub der europäischen Demokratien ist keineswegs neu. Dass Erdoğan das Anliegen jetzt erneut ins Zentrum rückt, hängt mit den globalen Verwerfungen zusammen, die der Amtsantritt von Donald Trump ausgelöst hat. Europas Regierungen stehen angesichts dieser geopolitischen Unwägbarkeiten unter Schock. Was gestern undenkbar erschien, ist inzwischen in das Reich der Möglichkeiten gerückt. Die neue Dynamik betrifft auch die Türkei – und die Rolle des geostrategisch günstig gelegenen Landes in den politischen Planspielen der wichtigen Akteure.
Das Timing von Erdoğans EU-Anlauf ist bewusst gewählt. Die von den USA betriebene Demontage der bewährten westlichen Sicherheitsarchitektur führt zu hektischen Bemühungen um eine alternative Ordnung in Europa. Der angedrohte amerikanische Rückzug schafft ein Machtvakuum – und Begehrlichkeiten. Die Geschichte der internationalen Beziehungen zeigt: Ein Vakuum bleibt nie lange unbesetzt. Erdoğan wittert eine Gelegenheit, die Türkei in eine dominantere Rolle zu führen. Seine Rhetorik und das massive militärische Aufrüstungsprogramm lassen erkennen, dass die Ambitionen Ankaras weit über den regionalen Horizont hinausreichen.
Wenn es um Waffen und Soldaten geht, hat Ankara dem militärisch unterversorgten Europa tatsächlich viel zu bieten
Erdoğan will in der Weltpolitik mitmischen – sei es bei der Ukraine-Krise, im Nahen Osten und in Afrika oder mit dem Vorschlag, ein muslimisches Land solle einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erhalten. Für die Mehrheit der europäischen Regierungen mag Erdoğans Vorschlag, die EU vor der machtpolitischen Bedeutungslosigkeit zu retten, eine Anmaßung sein. Gleichwohl stößt Ankaras Avance politisch nicht in die Leere. »Europäische Länder, die glaubten, dass sich diesen Luxus leisteten, erkennen jetzt, dass sie die Türkei nicht länger ausschließen können«, zitiert die Nachrichtenagentur Reuters den ehemaligen türkischen Diplomaten Sinan Ulgen. Auch NATO-Generalsekretär Mark Rutte spricht sich, so berichtet die Financial Times, für eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei aus. Was genau der Niederländer im Sinn hat, ist nicht bekannt. Wenn es um Waffen und Soldaten geht, hat Ankara dem militärisch unterversorgten Europa tatsächlich viel zu bieten.
Allerdings ist die EU keine Militärallianz – und wird es auch angesichts neuer Bedrohungsszenarien nicht werden. Europas Hauptprobleme mit der Türkei sind politischer Natur: Es geht um die systemische Verletzung der Menschenrechte und die Erosion der Rechtsstaatlichkeit, die eine Aufwertung der Beziehungen verhindern.
Auch in substanziellen Fragen der Sicherheitspolitik klaffen tiefe Gräben zwischen der EU und der Türkei. Dabei geht es nicht nur um das ungelöste Zypernproblem sowie Ankaras Revisionismus im östlichen Mittelmeer und der Ägäis. Besonders heikel ist die türkische Ambivalenz in der Ukraine-Frage und die Haltung zu Moskau. Solange die Türken einträgliche Geschäfte mit Moskau machen, können sie kaum erwarten, als Verbündeter in einer neuen Sicherheitsarchitektur Europas willkommen zu werden. Denn: Europas militärische Sorge ist bis auf weiteres Putins Russland. Nur wenn Erdoğan in diesem Punkt eindeutig – in Worten und in Taten – Position bezieht, wird eine strategische Anbindung an den alten Kontinent eine realistische Option.
Was zwischen der Türkei und der Europäischen Union passiert, ist traditionell von höchster politischer Bedeutung für Griechenland – und zunehmend auch Zypern. Ein wesentliches Motiv für den Beitritt beider Staaten in die EU war die hiermit verbundene Stärkung in der Auseinandersetzung mit der Türkei. Sehr zum Unmut Ankaras ist die EU in den zurückliegenden Jahren auf Betreiben der Griechen zu einem wichtigen Schauplatz der griechisch-türkischen Kontroversen geworden.
Ein zentrales Element der regionalen Strategie Athens ist die enge Zusammenarbeit Athens mit Israel
Mit Argusaugen verfolgen die Regierungen in Athen und Nikosia die Entwicklungen zwischen Ankara und Brüssel. Kaum zu verbergen sind die Sorgen in der politischen Klasse Griechenlands über die neuartige »Popularität« der Türkei in einflussreichen Kreisen Europas. Bedrohlicher noch als der sich abzeichnende Machtzuwachs der Türkei ist für viele Beobachter das zeitlich einhergehende, sich abzeichnende Ende der regelbasierten internationalen Ordnung.
Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten, der traditionellen Schutzmacht der Griechen im Konflikt mit dem östlichen Nachbarn, ohne jede Rücksicht auf das Völkerrecht Nachbarländer mit der Annexion und nun auch mit militärischer Gewalt bedroht, beflügelt das bei vielen Griechen die Sorge, Erdoğans Türkei könne das amerikanische Vorbild kopieren. »Trump ist in der Lage, nicht nur die Hälfte, sondern die gesamte Ägäis an die Türkei ›abzutreten‹«, beschreibt der Kommentator einer führenden Athener Tageszeitung ein Szenario, das in Griechenland Angst und Schrecken verbreitet.
Derweilen hält sich die Athener Regierung mit Kommentierungen der Entwicklungen auf Seiten der Amerikaner demonstrativ zurück. Die wenigen offiziellen Verlautbarungen enthalten eine positive Botschaft: »Ich sehe keine Änderung i der griechischen Sicht auf die USA«, sagte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis in einer seiner wenigen Äußerungen zur neuen weltpolitischen Lage. Derweil wird Außenminister Giorgios Gerapetritis nicht müde, Griechenlands Rolle als Garant der Stabilität in einer an Krisen reichen Region zu preisen.
Ein zentrales Element der regionalen Strategie Athens, die auch bei Donald Trump und seinen Gefolgsleuten auf Gefallen stoßen sollte, ist die enge Zusammenarbeit Athens mit Israel. Auch wenn die Griechen es nicht an die große Glocke hängen, kann diese Allianz, die längst auch eine militärische Dimension hat, im Werben um die Gunst des impulsiven Bewohners des Weißen Hauses eine Trumpfkarte sein. Erdoğans vielzitierte Nähe zur palästinensischen Hamas löst bei Donald Trump hingegen wenig Sympathien aus. Auch für die Mehrheit der Europäer dürfte der Schulterschluss des türkischen Präsidenten mit der Hamas eher ein Stolperstein auf dem Weg zu einer angestrebten EU-Mitgliedschaft sein.
Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow bei der »Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik« (ELIAMEP).