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Ägypten und der Gaza-Krieg

Rafah ist nur der Anfang

Feature
Ägypten und der Gaza-Krieg
Eine lange Schlange von Lastwagen mit Hilfslieferungen wartet auf der ägyptischen Seite der Grenze zu Gaza auf eine Einreisegenehmigung. Screenshot Sky News

Die Wut über den Gaza-Krieg hat der ägyptischen Zivilgesellschaft neue Kraft gegeben. Und immer mehr junge Ägypter stellen die Grundlagen des Friedensvertrags mit Israel in Frage.

Es gibt nur wenige glaubwürdige Meinungsumfragen unter Ägyptern, die mit Sicherheit Aufschluss über ihre Haltung zum Gazastreifen geben. Beobachter sind sich jedoch einig, dass die ägyptische Öffentlichkeit ein zweites Erwachen erlebt. Vor zwölf Jahren weckte der Arabische Frühling das Interesse junger Ägypter an der Politik im eigenen Land. Seit Oktober 2023 sind sich viele Ägypter der regionalen und globalen Politik viel bewusster als zuvor. Die Stimmung am Nil ist geprägt von Empörung, Enttäuschung und einem trotzigen Respekt vor dem Begriff »Widerstand«. 

 

Seit Beginn des Gaza-Krieges sympathisieren vor allem junge Ägypter mit den Palästinensern dort. Spenden- und Freiwilligenkampagnen für humanitäre Hilfe haben deutlich zugenommen. So hat die ägyptische Ärztekammer ein Rettungs- und Hilfstraining für junge Ärzte organisiert, die sich freiwillig für die medizinische Versorgung der Palästinenser gemeldet haben.

 

Die Solidarität geht weit über die humanitäre Situation hinaus. Sie ist Ausdruck einer Wiederannäherung an die palästinensische Sache – und fällt zusammen mit einem moralischen Glaubwürdigkeitsverlust des Westens von historischem Ausmaß. Die Sympathie für die Menschen in Gaza und Palästina im Allgemeinen hat die Zivilgesellschaft nach Jahren der verordneten Inaktivität seit 2013 wiederbelebt. Neben Studentendemonstrationen an verschiedenen Universitäten finden wöchentliche Solidaritätskundgebungen in der Al-Azhar-Moschee nach den Freitagspredigten statt.

 

Der Stimmungsumschwung in der ägyptischen Öffentlichkeit erschütterte drei etablierte Grundlagen

 

In den Wochen nach Beginn des Krieges im Gazastreifen boykottierten immer mehr Ägypter Produkte westlicher Unternehmen, die beispielsweise in Siedlungen in den Besetzten Gebieten tätig sind. Betroffen waren unter anderem Starbucks, Pepsi und Coca-Cola. Die Nachfrage nach einheimischen Ersatzprodukten stieg rasant. So meldete der ägyptische Mineralwasserhersteller »Spiro Spathis« seit dem 7. Oktober einen Anstieg der Verkaufszahlen um 500 Prozent.

 

Der Stimmungsumschwung in der ägyptischen Öffentlichkeit hat drei vermeintlich etablierte Grundlagen in Bezug auf den Nahostkonflikt erschüttert.

 

Erstens bezeichnen die ägyptischen Staatsmedien die Hamas nicht mehr als Terrororganisation, sondern als »palästinensischen Widerstand«. Dieses neue offizielle Narrativ stößt eher bei älteren Ägyptern auf Zustimmung, während die Solidarität der jüngeren Generation eher den Palästinensern selbst als ihren politischen Repräsentanten gilt.

 

Der Kontrast zum Gaza-Krieg 2014 könnte in der Berichterstattung nicht größer sein. Damals fielen die Solidaritätsbekundungen mit den Palästinensern zurückhaltend aus, nicht zuletzt aufgrund von Medienkampagnen, die die Hamas als Komplizin von Terrorakten in Ägypten darstellten. Heute genießen Kommentatoren in dieser Frage einen für ägyptische Verhältnisse ungewöhnlich großen Spielraum und üben scharfe Kritik an Israel. Ein Zugeständnis der Regierung an die allgemeine Stimmung in der ägyptischen Öffentlichkeit.

 

Der 7. Oktober katapultierte das ägyptisch-israelische Verhältnis zurück ins öffentliche Bewusstsein

 

Zweitens spielt der 1979 unterzeichnete Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel für die heutige Jugend eigentlich keine Rolle, da er lange vor ihrer Geburt geschlossen wurde. Erst der 7. Oktober katapultierte die Grundlagen der ägyptisch-israelischen Beziehungen ins Bewusstsein der jungen Generation. Denn schließlich wurden mehr als 1,5 Millionen Palästinenser in den südlichen Gazastreifen an der ägyptischen Grenze vertrieben. Es herrscht Konsens darüber, dass Ägypten seine Grenzen nicht öffnen und Palästinenser aus dem Gazastreifen in den Sinai einreisen lassen darf, da dies einer zweiten Nakba gleichkäme.

 

Das bedeutet nicht, dass junge Ägypter der humanitären Katastrophe an der Grenze nur mit Blick auf das eigene Land gegenüberstehen. So forderte der ägyptische Journalistenverband die Behörden auf, mehr zu tun, um den Grenzübergang Rafah offen zu halten, damit Hilfsgüter geliefert werden können und verwundete Palästinenser Zugang zu medizinischer Behandlung in Ägypten erhalten. Ein Drahtseilakt für die Regierung. Schließlich stellen immer mehr Bürger die Bestimmungen des Camp-David-Abkommens in Frage, das entmilitarisierte Zonen an der Grenze zwischen Ägypten und Gaza vorsieht und den israelischen Sicherheitskräften eine unverhältnismäßig große Kontrolle über den Grenzverkehr einräumt. 

 

Drittens wird so deutlich wie schon lange nicht mehr die Doppelmoral des Westens kritisiert, wenn es um den Schutz der Menschenrechte und die Einhaltung des Völkerrechts in Palästina geht. Vor allem im NGO-Sektor, in dem sich viele junge Ägypter engagieren, sitzt die Enttäuschung tief. Früher orientierten sich viele dieser Organisationen an westlichen Menschenrechtsstandards und erhielten finanzielle Unterstützung für ihren Kampf um die Wahrung von Menschenrechten in Ägypten.

 

Die Enttäuschung sitzt vor allem im NGO-Sektor tief, in dem sich viel junge Ägypter engagieren

 

Dieses Verhältnis ist nachhaltig gestört. So kündigte die renommierte Menschenrechtsorganisation »Egyptian Initiative for Personal Rights« (EIPR) im Dezember an, künftig nicht mehr mit staatlichen deutschen Geldgebern zusammenzuarbeiten, nachdem die Bundesregierung die Förderung der Frauenrechts-NGO »Center For Egyptian Women's Legal Assistance« (CEWLA) eingestellt hatte.

 

Wie viele Jugendliche weltweit meiden auch junge Ägypter staatliche Sender und konsumieren Inhalte vor allem über soziale Medien. Dies gilt auch für Nachrichten über den Gaza-Krieg. Das Ausmaß der Zerstörung und des menschlichen Leids erlebten viele Ägypter dadurch noch unmittelbarer und ungefilterter als in früheren Kriegen.

 

Diese neue Medienrealität stellt die Politik vor Herausforderungen. Denn der emotionale Aufruhr erschwert diplomatische Friedensinitiativen. Wie viele Araber haben auch die Ägypter die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung verloren. Der Westen wird nicht mehr als vertrauenswürdiger Vermittler wahrgenommen. Ohne einen echten Versuch, den Krieg zu beenden und sich für einen gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Israel und einem unabhängigen, souveränen palästinensischen Staat einzusetzen, werden Stabilität und Wohlstand im Nahen Osten nur schwer zu erreichen sein. Und auch der Westen wird seinen enormen moralischen Glaubwürdigkeitsverlust im globalen Süden nicht wieder wettmachen können.


Noha El-Mikawy ist Dekanin der »School of Global Affairs and Public Policy« (GAPP) an der American University in Cairo (AUC).

Von: 
Noha El-Mikawy

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