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Beziehungen zwischen den USA und der Türkei

Zwei außer Rand und Band

Feature
Beziehungen zwischen den USA und der Türkei
The White House

Warum die Absage des Treffens im Weißen Haus ein Rückschlag für die amerikanisch-türkischen Beziehungen ist – und Joe Biden und Recep Tayyip Erdoğan daraus trotzdem Vorteile ziehen.

Der Begriff »Unberechenbarkeit« beschreibt ein wiederkehrendes Verhaltensmuster der Außenpolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die Absage – offiziell ist beschwichtigend von Verschiebung des für den 9. Mai geplanten Besuchs des türkischen Präsidenten im Weißen Haus die Rede – passt in dieses Muster.

 

Seit Jahren gilt ein prestigeträchtiger Empfang am Regierungssitz in Washington D.C. als ein vorrangiges Ziel des türkischen Präsidenten. Minister und Diplomaten beider Seiten haben bis zuletzt an diesem Projekt gearbeitet. Und dann plötzlich, wie aus heiterem Himmel: der türkische Rückzieher an diesem Wochenende. »Uns ist es nicht gelungen, die Zeitpläne der beiden Seiten in Einklang zu bringen«, lautet die wenig überzeugende Erklärung der US-Botschaft in Ankara.

 

Seither spekulieren Kommentatoren und Experten über die Hintergründe eines diplomatischen Vorgangs, der Implikationen hat, die weit über den Rahmen des bilateralen Verhältnisses hinausreichen.

 

Neben den harten politischen Faktoren haben anscheinend auch protokollarische Differenzen eine wichtige Rolle gespielt. In Medienberichten ist von Meinungsunterschieden über das Niveau der Visite und die Qualität der gebotenen Gastfreundschaft die Rede. Folgt man dieser Lesart, erwartete Präsident Erdoğan einen pompösen Empfang, wie ihn das Weiße Haus in besonderen Fällen für besondere Staatsgäste inszeniert. In diesem Fall blieb das US-amerikanische Protokoll offenbar weit hinter diesem Niveau zurück: Die Biden-Administration habe gerade einmal zwei Stunden für den türkischen Staatschef eingeplant, heißt es. Nicht einmal ein Abendessen im Weißen Haus soll auf dem Programmentwurf gestanden haben.

 

Ausschlaggebend für die kurzfristige Absage – oder Verschiebung, um bei der amtlichen Diktion zu bleiben – waren vermutlich aber weniger die Fragen des Protokolls (obgleich diese bei dem auf Status bedachten Erdoğan eine wichtige Rolle spielen), sondern handfeste politische Interessen – und zwar auf beiden Seiten. Wobei am Ende Ankara das Handtuch geworfen hat.

 

Ankara und Washington stehen, wenn es um Israel geht, auf unterschiedlichen Seiten, die Differenzen könnten kaum größer sein

 

Eine kurze Einordnung: Seit Jahr und Tag überschatten tiefgreifende Differenzen das bilaterale Verhältnis. Erdoğans Erwerb des russischen Raketensystems S 400 vergiftet wie kaum ein anderes Thema die Beziehungen. Unüberbrückbar bleiben die Differenzen in Bezug auf Syrien, wo Ankara kurdische Milizionäre militärisch bekämpft, die bei den Amerikanern als wichtigste Verbündeten im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) gelten. Putins Krieg gegen die Ukraine hat neue Spannungen geschaffen, da Ankara sich nur zögerlich und keinesfalls umfassend an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligen will.

 

Gleichwohl gab es zuletzt Zeichen einer Annäherung zwischen Ankara und Washington, von einem frischen Wind in den bilateralen Beziehungen war die Rede: In einem langwierigen Prozess, der an Szenen auf einem orientalischen Basar erinnerte, trotzte Washington den Türken die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens ab und sagte im Gegenzug die Lieferung von hochmodernen F 16-Kampfflugzeugen für die überalterte türkische Luftwaffe zu. Ein Empfang Erdoğans im Weißen Haus sollte dem politischen Tauschgeschäft die Krone aufsetzen.

 

Dieser wurde nun kurzerhand abgeblasen. In Washington wird kaum damit gerechnet, dass Erdoğan vor den Wahlen Anfang November eine zweite Chance gegeben wird, im Weißen Haus von seinem US-amerikanischen Amtskollegen hofiert zu werden.

 

Das liegt vor allem an der Eskalation im Nahen Osten. Der Krieg in Gaza hat zu neuen Verwerfungen im Verhältnis der Supermacht mit der aufstrebenden Regionalmacht geführt. Ankara und Washington stehen, wenn es um Israel geht, auf unterschiedlichen Seiten, die Differenzen könnten kaum größer sein. Die Gaza-Politik hat längst auch innenpolitische Dimensionen. Das gilt für Erdoğan ebenso wie für Biden.

 

Ein Grund für Erdoğans Niederlage bei den kürzlichen Kommunalwahlen ist das Erstarken der islamistischen »Neuen Wohlfahrtspartei«, die mit großem Erfolg dem Präsidenten mangelhafte Solidarität mit den Palästinensern vorgehalten hat. Diesen Vorwurf hat Erdoğan, der sich gerne als Anführer der Muslime dieser Welt sieht, nicht auf sich sitzen lassen. Seit seinem Wahldebakel hat der türkische Präsident seine anti-israelische Rhetorik verschärft. Zuletzt hat Erdoğan auch die USA wegen der Unterstützung für Israel öffentlich angegriffen. All dies hat zu einer Vergiftung des Klimas geführt – und einer politisch-diplomatischen Gemengelage, die mit dem angestrebten freundschaftlichen Schulterschluss zwischen Biden und Erdoğan im Weißem Hauses offenkundig nicht kompatibel ist.

 

Erdoğan kann nun weiter an seinem Image als kompromissloser Anführer der muslimischen Welt arbeiten

 

Für Biden stehen die alles entscheidenden Wahlen noch bevor: Die Berater des US-amerikanischen Präsidenten werden gedacht haben, dass TV-Bilder ihres Kandidaten mit dem Hamas-Verbündeten Erdoğan den politischen Gegnern in die Hände spielen würden. Dass die pro-israelische Lobby das Ihre getan hat, den Besuch von Erdoğan zu unterminieren, mag auch eine Rolle gespielt haben. Zusammengenommen hat die Absage des Besuches für den US-amerikanischen Präsidenten innenpolitisch eine positive Seite.

 

Auch dem türkischen Präsidenten kommt der Vorgang zugute, kann Erdoğan doch nun weiter an seinem Image als kompromissloser Anführer der muslimischen Welt arbeiten. Fast könnte man meinen, Ankara und Washington hätten sich hinter den Kulissen verständigt, dass es nicht der geeignete Zeitpunkt für den Gipfel im Weißen Haus sei. Trotz alledem: Auf operativer Ebene läuft derweil die Kommunikation zwischen Ankara und Washington weiter.

 

Gleichwohl: Für die offiziellen Beziehungen zwischen den USA und der Türkei bedeutet die Verschiebung des Besuches einen schweren Rückschlag.

 

In ersten Kommentaren ist zu lesen, die überraschende Wendung in den türkisch-amerikanischen Beziehungen komme vor allem Russlands Putin zugute, schwäche der vereitelte Besuch doch den Zusammenhalt in der westlichen Allianz. Aus zwei Gründen überzeugt diese Argumentation nicht.

 

Zum einen ist die Türkei, wenn es um die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten geht – und vor allem diese Themen beherrschen derzeit die Weltpolitik –, nur eingeschränkt ein Teil der westlichen Gemeinschaft. Zu ausgeprägt sind die türkischen Eigeninteressen und die vielen Alleingänge Erdoğans. Zudem ist auch Putin, wie jetzt Biden, Opfer der notorischen Unberechenbarkeit des türkischen Präsidenten geworden. Der wiederholt von Moskauer Seite angekündigte Besuch des russischen Präsidenten in der Türkei wurde mehr als einmal verschoben. Putin wartet bis heute vergeblich auf Einlass in die Türkei.


Dr. Ronald Meinardus ist Senior Research Fellow bei der »Hellenischen Stiftung für Europäische und Auswärtige Politik« (ELIAMEP).

Von: 
Ronald Meinardus

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