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Israel, Gaza und Sanktionen

Was bewirken Sanktionsdrohungen gegen Israel?

Feature
von Lisa Neal
Israel, Gaza und Sanktionen
Am 10. Juni verhängten Großbritannien, Kanada, Norwegen, Australien und Neuseeland Sanktionen gegen die rechtsextremen israelischen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich.

Mehrere Staaten warnen Israel vor Sanktionen, falls die Offensive in Gaza nicht endet. Dabei sollten sie auch die israelische Kriegsführung an anderen Schauplätzen miteinbeziehen – im Libanon, Syrien, Westjordanland und auch Iran.

Etwas war etwas in Bewegung geraten: Nach Monaten der Gewalt in Gaza mehrten sich die Anzeichen dafür, dass westliche Staaten bereit waren, politischen Druck auf Israel auszuüben. Nicht nur mit Worten, sondern erstmals auch mit konkreten Maßnahmen. Sanktionen rückten in den Mittelpunkt. Vor allem Frankreich und Großbritannien setzten darauf, die israelische Militäroffensive mit diesem außenpolitischen Hebel zumindest abzubremsen. Bis zum 13. Juni hatte diese Entwicklung an Momentum gewonnen:

 

Mitte Mai drohten Frankreich, Kanada, Großbritannien, Norwegen, Australien und Neuseeland gegenüber Israel mit »konkreten Maßnahmen« wie Sanktionen, sollte Benyamin Netanyahus Regierung seine Offensive in Gaza nicht einstellen und humanitäre Hilfe zulassen. Ende Mai sprach sich der französische Präsident Emmanuel Macron offen für härtere Maßnahmen der Europäischen Union aus. Demnach hatte die Mehrheit der EU-Länder beschlossen, das Assoziationsabkommen mit Israel zu überprüfen.

 

Wieder zehn Tage später, am 10. Juni, verhängten Großbritannien, Kanada, Norwegen, Australien und Neuseeland die ersten Sanktionen gegen die rechtsextremen israelischen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich. Deren Aufrufe zur Gewalt im Westjordanland waren der direkte Grund für die Sanktionen. Beide dürfen die sanktionsgebenden Länder nicht mehr bereisen, ihre Vermögenswerte dort werden eingefroren.

 

Zehn Tage später wären weitere Schritte wahrscheinlich gewesen. Doch in der Nacht zum 13. Juni veränderte sich die Situation abrupt: Israel eskalierte seine militärischen Angriffe gegen Ziele in Iran. Seither dominiert in den internationalen Debatten nicht mehr die Frage nach Sanktionen gegen Israel, sondern erneut jene nach Sanktionen gegen Iran. Damit droht ein bis dahin aufgebautes politisches Momentum ins Leere zu laufen, das Potenzial, Sanktionen als Instrument der Rechtsdurchsetzung wirksam zu nutzen.

 

Sanktionen bleiben ein verfügbares und legitimes Mittel. Sie können gegenüber Israel angewendet werden und sollten es auch. Der Blick darf dabei nicht bei Gaza enden. Die israelische Kriegsführung gegen zivile Ziele und Infrastruktur in Iran, im Libanon, im Westjordanland und in Syrien verdient politische und völkerrechtliche Aufmerksamkeit. Gefragt ist nun schnelles, abgestimmtes Handeln durch internationale Akteure. Denn schon die glaubhafte Androhung von Sanktionen kann politische Dynamiken verschieben.

 

Sanktionen beginnen mit Worten

 

Sanktionen folgen selten einem plötzlichen Beschluss. Sie entstehen in Etappen. Der erste Schritt ist meist die politische Drohung. Sanktionsdrohungen sind eine politische Maßnahme, mit der ein Staat, eine internationale Organisation oder eine Institution versucht, das Verhalten eines anderen Akteurs zu beeinflussen. Mit einer Drohung wird signalisiert, dass ein bestimmtes Verhalten wie ein Rechtsbruch nicht ohne Konsequenzen bleibt.

 

Schon diese erste Ankündigung kann Wirkung entfalten. Ob eine Drohung wirkt, hängt vom Kontext ab. Doch grundsätzlich kann sie das Verhalten beeinflussen, indem sie abschreckt. Sie sendet ein klares Signal an den Adressaten und an die internationale Gemeinschaft. Und sie verschiebt die Positionen. Staaten, die gegen Völkerrecht oder etablierte Normen verstoßen, geraten unter Druck, sich neu zu orientieren.

 

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Sanktionsdrohungen in manchen Fällen sogar wirkungsvoller sind als die späteren Maßnahmen selbst. Voraussetzung ist, dass die Drohung glaubwürdig ist, gezielt ausgesprochen wird und die möglichen Folgen – ökonomische Schäden oder außenpolitische Isolation – realistisch erscheinen. Besonders effektiv sind solche Szenarien, wenn sie mit Anreizen für Verhaltensänderungen kombiniert werden.

 

Sanktionen zwischen Demokratien sind besonders effektiv

 

Sanktionsdrohungen und tatsächliche Maßnahmen gegen Israel können aus zwei Gründen besonders wirkungsvoll sein. Erstens entfalten Sanktionen vor allem dann ihre Wirkung, wenn mehrere Staaten gemeinsam handeln. Multilaterale Sanktionen, also Maßnahmen, an denen mehrere Länder oder Akteure beteiligt sind, machen es dem betroffenen Staat schwer, neue wirtschaftliche und politische Partner zu finden. Denn mit jeder zusätzlichen Beteiligung steigt der Druck auf den Sanktionsempfänger.

 

Neben dem Zusammenschluss von immer mehr Staaten zeigt sich am Beispiel Israel jedoch auch ein Problem für die Sanktionssender: Die USA, der wirkmächtigste Sanktionsgeber, beteiligen sich nicht und verurteilen die Maßnahmen sogar. Auch Deutschland, Israels wichtigster europäischer Handelspartner, schließt sich nicht direkt an. Die Bundesregierung verweist auf die in Deutschland geltende Praxis, sich an EU-Sanktionen zu beteiligen.

 

Formell unterscheidet sich Israel von Sanktionen gegen autoritäre Staaten wie Russland oder Iran. Zwischen Demokratien bestehen oft enge wirtschaftliche Verflechtungen. Das hält viele Sanktionssender davon ab, zu schnell oder zu hart vorzugehen, weil auch sie Kosten tragen müssen. Die steigenden Gaspreise nach den Sanktionen gegen Russland sind ein Beispiel dafür.

 

Zudem müssen Regierungen in Demokratien sich stärker gegenüber der eigenen Bevölkerung rechtfertigen, sowohl für die Verhängung von Sanktionen als auch für das eigene Verhalten. Demokratien sehen sich gegenseitig als legitime Partner, weshalb diplomatische Beziehungen trotz Sanktionen erhalten bleiben. Diese direkte Kommunikation kann dazu beitragen, die Situation zu verändern. Außerdem sind Demokratien häufig empfänglicher für moralischen Druck und achten auf ihr internationales Ansehen.

 

Was die Androhungen und ersten Sanktionen in Israel bisher ausgelöst haben

 

Der israelische Premierminister weist jegliche Kritik an den Ursachen für die Sanktionsandrohung zurück. Als Reaktion kündigte Netanyahu an, die Einfuhr einer »Grundmenge an Lebensmitteln« nach Gaza zu genehmigen. Auf die Sanktionen gegen die Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich ließ die Regierung verlauten, es sei »empörend, dass gewählte Volksvertreter und Regierungsmitglieder solchen Maßnahmen ausgesetzt« seien. Man werde darauf bald reagieren.

 

Ein großes Problem in der Sanktionsforschung und Berichterstattung ist der Fokus auf Staaten. Dabei bleiben die Menschen, die die Folgen wirklich spüren, oft unsichtbar. Wer verstehen will, wie Sanktionen wirken, muss vor allem den Betroffenen zuhören. Anonymisierte Berichte aus der israelischen Bevölkerung, die der Autorin vorliegen, geben erste ausschnittartige Einblicke:

 

Berufstätig in Vollzeit (30), männlich:

Die bereits verhängten Sanktionen haben keine direkten Auswirkungen auf das tägliche Leben hier (außer vielleicht für einige Abgeordnete), deshalb erscheinen sie den meisten Menschen bedeutungslos. Was mir am meisten Sorgen macht, ist der Eindruck, dass wir von außen als eine Gesellschaft gesehen werden könnten, die ihre eigenen Fehler nicht erkennt – und dass andere Nationen glauben, wir bräuchten einen »Anstoß«, um selbstkritischer zu werden. Meiner Meinung nach entspricht das nicht der Realität. Viele Bürgerinnen und Bürger machen sich große Sorgen und gehen jede Woche auf die Straße, um zu protestieren.

 

Diese Wahrnehmung Israels als ein gleichgültiges Volk beunruhigt mich, und ich finde sie nicht zutreffend, doch sie könnte zu weiteren Sanktionen führen. Letztlich ist es derzeit vor allem eine Frage der Außendarstellung. Die Wahrheit ist: Diese Sanktionen haben momentan kaum Auswirkungen auf uns. Und wir Israelis kümmern uns in der Regel nicht allzu sehr darum, was andere Nationen über uns denken, da historisch gesehen ohnehin viele gegen uns waren.

 

Berufstätige Studentin und Aktivistin (25), weiblich:

Wenn ich aus einer politischen und menschenrechtlichen Perspektive spreche, würde ich sagen, dass Sanktionen oft als letztes Mittel angesehen werden, um Staaten unter Druck zu setzen, internationale Normen einzuhalten. Für jemanden wie mich, die sich intensiv mit Fragen von Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht in der Region beschäftigt, könnten Sanktionen einen Wendepunkt darstellen – einen Moment, in dem internationale Mechanismen eingreifen, wenn lokale Mechanismen versagen. Sie könnten auch Aktivisten und Organisationen vor Ort stärken, indem sie deren Anliegen auf internationaler Ebene Anerkennung verschaffen. Allerdings ist es wichtig zu erwähnen, dass mir auch bewusst ist, dass Sanktionen nach hinten losgehen oder verletzliche Bevölkerungsgruppen schädigen können, wenn sie nicht gezielt und sorgfältig eingesetzt werden.

 

Aktivistin (25), weiblich:

Ich würde sagen, dass internationale Sanktionen für mich die letzte, aber zugleich einzige Lösung sind, die Israel als Staat und Gesellschaft davon abhalten könnten, seine Handlungen fortzusetzen. Israel ist bekannt dafür – sowohl auf Regierungsebene als auch in der Bevölkerung – nie wirklich Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

 

Internationale Sanktionen würden die Israelis vielleicht nicht dazu bringen, ihr Fehlverhalten einzusehen, aber sie würden sie unter Druck setzen, ihr Verhalten so zu ändern, dass es auf der globalen Bühne als »legitimer« erscheint. Die Israelis fühlen sich im gesellschaftlichen Sinn ohnehin bereits isoliert, sind aber in der Lage, ein geschlossenes Unterstützungssystem zu schaffen, das es der Gesellschaft ermöglicht, ohne Schuldgefühl und Veränderung weiterzubestehen. Doch sobald diplomatische Sanktionen greifen – dann sehen wir Veränderung.

 

Welche weiteren Sanktionen werden angedroht

 

Im Fall Israel darf die jüngste Eskalation nicht außer Acht gelassen werden. Sanktionen müssen die verschiedenen Brüche des Völkerrechts angehen: in Gaza, Iran, im Libanon, im Westjordanland. Sie müssen stark genug sein, um die Verantwortlichen wirklich zu treffen, und zugleich präzise genug, um die Zivilbevölkerung nicht zu schädigen.

 

In nächster Zeit sind weitere gezielte Maßnahmen zu erwarten. Die EU hat 2024 erstmals Sanktionen gegen gewalttätige israelische Siedler verhängt. Betroffen sind vier Einzelpersonen und zwei Jugendgruppen. Es ist deshalb glaubhaft anzunehmen, dass die EU weitere Sanktionen verhängen wird, falls sich das Verhalten Israels nicht ändert. Dann müsste auch Deutschland Sanktionen gegen Israel verhängen, weil gemeinsam beschlossene EU-Sanktionen verpflichtend für alle EU-Staaten sind.

 

Nach der üblichen Logik einer Eskalation würden als nächstes weitere Personen und Organisationen gelistet, Handelsabkommen eingeschränkt oder einzelne Wirtschaftszweige mit Sanktionen belegt werden. Zudem sind Waffenexportverbote, umfassende Reise- und Verkehrsbeschränkungen für Israelis möglich. Zu den umfangreichsten Maßnahmen gehört zum Beispiel ein Ausschluss aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT, der ebenfalls unter den Begriff der gezielten Sanktionen fällt. Im Unterschied zu einem Boykott wie der »Boycott Divestment and Sanctions«-Kampagne (BDS), werden Sanktionen von Staaten oder internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen verhängt. Ein Boykott dagegen ist ein freiwilliger Akt von Individuen, Gruppen oder Unternehmen.

 

Ziel einer Sanktion ist vor allem die Verhaltensänderung eines Staates oder Akteurs. Gleichzeitig kann sie, ähnlich wie ein Boykott, auch als moralischer Ausdruck verstanden werden. Der wichtigste Unterschied liegt im Rechtscharakter: Sanktionen haben eine gesetzliche Grundlage, während ein Boykott auf Freiwilligkeit beruht.

 

Sanktionen haben zu Recht einen paradoxen Ruf: Sie wirken oft nicht ausreichend, und dennoch werden sie immer wieder eingesetzt. Problematisch werden Sanktionen vor allem, wenn sie als alleinige Strategie betrachtet werden. Nur eingebettet in eine umfassende politische und wirtschaftliche Gesamtstrategie können sie wirklich wirksam sein.

 

Sanktionen entfalten ihre Wirkung meist langsam und müssen zugleich flexibel genug sein, um auf schnelle Veränderungen reagieren zu können. Das gelingt, wenn die Sanktionsgeber entschlossen handeln und die nötigen Ressourcen bereitstellen, um die Maßnahmen auch durchzusetzen. Sanktionen bedeuten oft auch Veränderungen für den Sender, was auch bedeuten wird, dass sich im Fall von EU-Sanktionen die Haltung der Bundesregierung verändern muss.


Lisa Neal ist freie Journalistin und promoviert an der Universität Hamburg zu internationalen Sanktionen. Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen genderspezifische Sanktionsfolgen am Beispiel Iran.

Von: 
Lisa Neal

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