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Israel, Griechenland und der Gaza-Krieg

Warum Israelis nach Athen ziehen

Feature
Israelis in Griechenland
»Ich habe die Möbel verkauft, das Nötigste gepackt und eine Wohnung in Athen angemietet – wir sind buchstäblich weggerannt«, erinnert er sich der 34-jährige Reservist Sacha. Luise Evers

Seit dem 7. Oktober 2023 zieht es immer mehr Israelis nach Athen. Die Folgen des Gaza-Kriegs begleiten die wachsende Gemeinde auch in der griechischen Hauptstadt.

In einem Hinterhof zwischen schattenspendenden Bäumen und abgewetzten Holzvertäfelungen mit Vintage-Charme wirkt das Lokal wie eine kreative Oase inmitten des bürgerlichen Vororts Marousi. »Dieser Ort erinnert mich an Tel Aviv«, sagt Sacha und lächelt. Der ehemalige Soldat lebt seit fast einem Jahr mit seiner Familie in der griechischen Hauptstadt. Vor fast zwei Jahren, am Morgen des 7. Oktober, erzählt der 34-Jährige, sei er von der Sirene geweckt worden. Seine Tasche habe er gepackt, noch bevor sein Handy klingelte und ihn über die Einberufung informierte. Er ist einer von tausenden Reservisten der Israelischen Streitkräfte (IDF). »Als der Anruf kam, bin ich am selben Tag los – an die Front, an die libanesische Grenze.«

 

Kurz darauf erfährt er, dass seine Frau schwanger ist. Nach der Geburt ihres Sohnes versucht das Paar erneut, in Tel Aviv Fuß zu fassen. Doch Bombennächte ohne Schutzraum, der Tod einer engen Freundin bei einem Anschlag und die iranischen Angriffe aus der Luft lassen sie im Herbst 2024 eine folgenschwere Entscheidung treffen. »Ich habe die Möbel verkauft, das Nötigste gepackt und eine Wohnung in Athen angemietet – wir sind buchstäblich weggerannt«, erinnert er sich.

 

»Nach dem 7. Oktober 2023 sind zahlreiche Israelis mit Kind und Kegel eingereist – in den griechischen Medien ist von über 10.000 die Rede«, sagt Ronald Meinardus vom Thinktank ELIAMEP in Athen. Sacha, der für diese Geschichte nicht mit vollem Namen erscheinen möchte, hatte als Immobilienentwickler bereits vor dem Gaza-Krieg mit Partnern eine Firma gegründet, die sich auf den Markt in Griechenland spezialisiert – und ist damit nicht allein.

 

Israelis investieren inzwischen jährlich über 500 Millionen Euro im Land, laut Prognosen könnte sich dieser Betrag bald verdoppeln

 

»Wir beobachten einen starken Zuzug israelischer Anleger, die in Immobilien investieren, etwa in Hotels in der Athener Innenstadt. Griechenland rühmt sich als Insel der Stabilität – eine Qualität, die kriegsmüde Israelis besonders schätzen«, erklärt Meinardus. Laut der griechischen Zeitung Kathimerini investieren Israelis inzwischen jährlich über 500 Millionen Euro im Land, laut Prognosen könnte sich dieser Betrag bald verdoppeln. Rund 70 Prozent aller israelischen Investitionen entfallen dabei auf die Hauptstadt Athen.

 

Sein Alltag in Griechenland gestalte sich relativ unauffällig, sagt Reservist Sacha. Viele der Bauarbeiter, die er beschäftigt, sind Syrer. Konflikte habe es aber nie gegeben. »Niemand hier kümmert es, dass ich Israeli bin.« Nicht überall in der Stadt fühle sich die Familie wohl. »Wenn du durch Exarchia oder die Innenstadt läufst, begegnen dir ständig Parolen wie ›Free Palestine‹, ›Fuck Israel‹. Für meine Frau war das keine Umgebung, in der sie unser Kind großziehen wollte.« Sie sei in Tränen ausgebrochen, als sie den Schriftzug »Save life, kill Zionists« sah, berichtet Sacha und erzählt, dass er daraufhin selbst das Graffito übermalt habe. »Seitdem ist alles gut«, sagt er, als müsse er den sicheren Raum für seine Familie selbst verteidigen.

 

Könnte der Anstieg der Immobilien-Investitionen die Wut auf Israelis verstärken? Ronald Meinardus sieht keinen Zusammenhang. »Israelische Investoren kaufen vor allem alte Bürogebäude in zentralen Athener Vierteln auf und wandeln sie in Hotels um. Mieter sind davon weniger betroffen.« Antisemitismus in Griechenland sei heute vor allem im linken Spektrum verortet, fügt er hinzu. »Athen war schon immer eine Street-Art-Stadt«, glaubt die israelische Wahl-Athenerin Noa Laks. »Ich habe gelernt, zu unterscheiden: Ein ›Free Palestine‹-Graffito ist nicht dasselbe wie ›Tod den IDF-Soldaten‹ oder ›Fuck Israel‹«, sagt die 29-Jährige. »Die Straßen gehören allen, und das müssen alle respektieren.« Auch wenn sie gelegentlich auf unangenehme Reaktionen stößt, erlebe sie als Israelin im Ausland die meisten Griechen als neugierig und offen.

 

Noa Laks war im Sommer vor dem 7. Oktober 2023 mit ihrem Partner durch Europa gereist, sie hatten im Home Office vom Ausland aus gearbeitet. Nach Kriegsbeginn entschieden sie, in Griechenland zu bleiben. »Es fühlte sich für uns nicht nach der richtigen Zeit an, um in Israel zu leben. Also bleiben wir erst einmal Nomaden.«

 

Seit 2019 hat sich eine strategische Achse zwischen Griechenland, Zypern und Israel herausgebildet – zunächst energiepolitisch, inzwischen auch militärisch

 

Das der Krieg in Nahost auch in Athen für Spannungen sorgt, wird nicht nur an Hauswänden sichtbar. Im August demonstrierten griechische Aktivisten im Hafen von Piräus und auf mehreren Inseln dagegen, dass israelische Kreuzfahrtschiffe andocken. Doch auch wenn solche Proteste für Aufsehen sorgen, stehe die griechische Regierung demonstrativ an der Seite Israels, betont Meinardus. Eine Haltung, die Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis Ende September bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen in New York noch einmal unterstrich. »Griechenland pflegt eine strategische Partnerschaft mit Israel, doch das hindert uns nicht daran, offen und ehrlich zu sprechen.« Seit dem Amtsantritt seiner Mitte-Rechts-Regierung 2019 hat sich eine strategische Achse zwischen Griechenland, Zypern und Israel herausgebildet – zunächst energiepolitisch, inzwischen auch militärisch.

 

»Diese Koalition hat eine klare anti-türkische Ausrichtung und gewinnt für die Israelis angesichts der zunehmend vergifteten Beziehungen zu Ankara zusätzlich an Gewicht«, glaubt Meinardus. Das klare Bekenntnis Athens zu Israel sei jedoch weniger Ausdruck ideologischer Nähe, sondern getrieben von einem aus griechischer Sicht existenziellen Motiv: der Frontstellung gegenüber der Türkei.

 

Israelis in Griechenland
Im August demonstrierten griechische Aktivisten im Hafen von Piräus und auf mehreren Inseln dagegen, dass israelische Kreuzfahrtschiffe andocken.

 

Sacha möchte seinem Sohn jüdisch erziehen und feiert in Athen die Jom-Kippur-Feiertage mit der Gemeinde. Mit seiner Frau spricht er Englisch, Hebräisch vermeide er bislang: »Ich will meinen Sohn nicht verwirren.« So bleibt trotz allem die Frage, wie lange Griechenland aus Sicht von Israelis wie Sacha ein sicherer Hafen sein wird. »Letztlich werden wir wohl zurückkehren müssen – nicht aus freien Stücken, sondern weil der wachsende Antisemitismus in Europa uns kaum Alternativen lässt«, ist er überzeugt.

 

Noa Laks hingegen kann sich gut vorstellen, länger in Athen zu bleiben. Sie hält Griechenland für vielfältig und lebenswert – und dank der israelischen Gemeinde fühle sich der Ort wie ein Zuhause an. »Wir haben viele Menschen kennengelernt und Freundschaften geschlossen«, zieht sie Bilanz. »Es fühlt sich langsam wie Heimat an.«

Von: 
Luise Evers

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