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Interview mit früherem ägyptischem Außenminister Nabil Fahmy

»Israel muss diese rote Linie respektieren«

Interview
Interview mit früherem ägyptischem Außenminister Nabil Fahmy
Foto: Philipp Peksaglam

Ägyptens früherer Außenminister Nabil Fahmy über Kairos Krisendiplomatie, westliche Rückendeckung für die Friedenspläne der arabischen Staaten – und warum in Rafah auch das Camp-David-Abkommen mit Israel auf dem Spiel steht.

zenith: Was versäumen die westlichen Staaten derzeit in Bezug auf Gaza? Wie könnten die Europäer Israel konstruktiv in Richtung Frieden drängen?

Nabil Fahmy: Der Normalisierungsprozess muss über die bloße Unterzeichnung von Abkommen mit einigen Ländern hinausgehen, was im Westen als »Fortschritt« angesehen wird. Man muss Sicherheit für alle in der Region schaffen. Wenn man sich die öffentliche Meinung in der Region ansieht und die Debatten in der übrigen Welt verfolgt, ist die israelische Darstellung, dass Israel der demokratische Staat ist, der bedroht wird, nicht mehr glaubwürdig. Wenn Israel wirklich seinen Status als demokratischer Staat bewahren will, kann es kein Gemetzel geben, wie wir es in Gaza erleben. Das Problem besteht heute darin, dass Israels politisches Spektrum gespalten ist: zwischen der extremen Rechten und der noch extremeren Rechten. Unter normalen Umständen wäre die israelische Mitte eher bereit, nach einer Lösung zu suchen. Ernsthafte Verhandlungen würden auch die Hamas dazu zwingen, sich zu ändern und den Friedensprozess öffentlich anzunehmen.

 

Wie sehen Sie insbesondere Deutschlands Rolle?

Wie könnt ihr Israels Handeln heute akzeptieren? Ihr Deutschen habt zu verschiedenen Zeitpunkten das Banner der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit hochgehalten. Jede gewaltsame Besetzung eines Gebietes ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht. Die berechtigten Bedenken Israels rechtfertigen jedoch nicht die Besetzung des Gebietes. Wann wird Israel nach fünf Monaten »Selbstverteidigung« aufhören? Darf es jeden Palästinenser töten, in der Hoffnung, einen weiteren hypothetischen Hamas-Kämpfer zu finden? Angesichts von 30.000 getöteten Menschen – 70 Prozent davon sind Frauen und Kinder – können die Israelis immer noch erzählen, dass Sie sich an Recht und Gesetz halten?

 

Welche Erwartungen richten Sie an die deutsche Außenpolitik?

Ich würde mir wünschen, dass Deutschland Israel unterstützt, aber auch den palästinensischen Staat unter Besatzung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 anerkennt. Deutschland sollte sich ebenso zur arabischen Friedensinitiative bekennen …

 

… dem Friedensplan, den Saudi-Arabien im Jahr 2002 vorlegte, der die vollständige Normalisierung im Gegenzug für das Ende der Besatzung im Westjordanland und dem Gazastreifen in Aussicht stellt. Wie sehen Sie die Reaktion des Westens auf die unmittelbare humanitäre Lage?

Die westlichen Staats- und Regierungschefs argumentieren, dass sie gegen Operationen wie etwa den angekündigten Sturm auf Rafah seien, solange Israel nicht garantieren könne, dass massiver Schaden von der Zivilbevölkerung abgewendet wird. Als ob die Menschen in Rafah den nicht längst erlitten hätten – die meisten haben ja schon alles verloren. Dann legten die USA im Sicherheitsrat dann ihr Veto gegen eine Resolution ein, in der ein vorübergehender Waffenstillstand gefordert wurde. Das finde ich bizarr.

 

»Wir Araber sind bereit uns einzubringen – aber dafür muss das Endziel Frieden erkennbar sein«

 

Welche Rolle spielt Ägypten bei diesen Verhandlungen und wie funktioniert das diplomatische Zusammenspiel mit Katar?

Ursprünglich fiel Ägypten eine Rolle in Sicherheitsfragen zu: Wir wollten größere israelische Operationen im Gazastreifen verhindern, etwa dadurch, dass wir die Freilassung einiger Geiseln erreichen. Normalerweise würden wir mit der Hamas nur über Sicherheit und mit der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah nur über Politik sprechen. So sah unsere Dichotomie gegenüber Palästina bislang aus. Im Gegensatz zu den Kataris, die kein Problem damit haben, mit der Hamas über politische Fragen zu sprechen, sind Ägypten und die Hamas politisch nicht auf einer Wellenlänge. Aber eine umfassende politische Lösung ist um Moment auch nicht die Priorität in den Verhandlungen.

 

Dennoch bleibt auch eine Vision für eine tragfähige politische Lösung wichtig.

Im Rahmen technischer Verhandlungen würde es darum gehen, praktikable, einander ergänzende Sicherheitsabkommen auszuhandeln. Das Endziel ist der Frieden. Es geht nicht um einen Kompromiss für ein wenig Fortschritt, sondern um die Beendigung des arabisch-israelischen Konflikts, die Normalisierung zwischen allen Arabern und den Israelis. Wir Araber sind bereit uns einzubringen – aber dafür muss das Endziel Frieden erkennbar sein.

 

Benjamin Netanyahu beharrt weiterhin auf einem »vollumfänglichen« Sieg über die Hamas. Welche Folgen leiten sich daraus für die politische Lösungsfindung im Nahostkonflikt ab?

Netanyahus Kurs spiegelt die israelische Mentalität wider: dass man die Ziele in der Region mit Gewalt erreichen kann. Aus Sicht der ägyptischen Regierung ist das eine kontraproduktive Haltung. Wir unterstützen die Politik der Hamas nicht. Aber das Problem liegt im umfassenderen israelisch-palästinensische Konflikt. In den gegenseitigen Zyklen der Gewalt, die sich seit 70 Jahren wiederholen. Wir glauben, dass die Antwort darauf ein politischer Prozess sein muss und nicht militärische Gewalt sein darf. Wenn die Hamas morgen besiegt würde, würde das einfach eine zweite, dritte und vierte Hamas hervorbringen. Wir Araber glauben nicht, dass die Israelis tatsächlich Frieden erreichen wollen.

 

»Ägypten wird keine größere Anzahl Palästinenser aufnehmen, die Israel aus Gaza vertreibt«

 

Welche Szenarien sehen Sie für die Zukunft des Gazastreifen? Unter welchen Bedingungen könnten die arabischen Staaten hier zumindest temporär Verantwortung übernehmen?

Ägypten wird ohne ein Abkommen keine Hilfe vor Ort leisten, und wir werden auch keine größere Anzahl Palästinenser aufnehmen, die Israel aus Gaza vertreibt. Eine Ausnahme besteht da in Bezug auf schwer Verwundete sowie Ausländer im Gazastreifen. Aber es ist wichtig, diese humanitäre Hilfe von Israels Umsiedlungsbemühungen zu unterscheiden. Die ägyptische Seite zögert noch immer, einen ernsthaften Plan vorzubringen, der komplexe Sicherheitsvorkehrungen beinhaltet, der dann wieder auf Ablehnung stößt. Ohne internationale Rückendeckung werden wir also nichts ankündigen. Ein solches Abkommen muss Substanz haben und darf nicht nur symbolischer Natur sein. Ein solcher Plan würde auch in der Golfregion mehr Anklang finden, um beim Wiederaufbau des Gazastreifens zu helfen. Ägypten und Jordanien könnten etwa Ausbildungskapazitäten übernehmen. Wir brauchen allerdings einen klaren Zeitrahmen: Eines haben wir über die Israelis gelernt: Alles ist für sie unverbindlich. Sie geben nie etwas zurück, egal ob es sich um Menschen oder Land handelt.

 

Wie ernsthaft bedroht sieht Ägypten die Bestimmungen des eigenen Friedensabkommens mit Israel?

Uns besorgen nicht nur die militärischen Operationen direkt an der Grenze, sondern eben auch die Ansammlung von so vielen Menschen dort. Ägypten muss seine Haltung klar ausformulieren und sowohl den Israelis, als auch etwa dem UN-Sicherheitsrat vorlegen. Und wir müssen auch erste Maßnahmen vor Ort ergreifen, die demonstrieren, dass wir es ernst meinen. Die potenzielle Verletzung des Territoriums ist eine ernste Frage der nationalen Sicherheit. Ägypten geht jedoch nicht in die Offensive. Die laufenden Entwicklungen sind transparent: Wir sehen, was die Israelis tun, die Israelis sehen, was wir tun. Wir können nicht zulassen, dass die Grenze überschritten wird. Israel muss diese rote Linie respektieren.

 

Würde Ägypten im Zweifelsfall so weit gehen, das Friedensabkommen mit Israel auszusetzen?

Die Reaktion wird von den konkreten Maßnahmen abhängen. Ich bin nicht darüber unterrichtet worden, welches Szenario zu was genau führen wird. Wir betrachten die Anwendung von Gewalt als letztes Mittel und werden immer versuchen, die Dinge auf diplomatischem Wege zu lösen. Aber Fragen der nationalen Sicherheit sind eine hochsensible Angelegenheit.



Interview mit früherem ägyptischem Außenminister Nabil Fahmy

Nabil Fahmy (73), war Botschafter in den Vereinigten Staaten (1999-2008), in Japan (1997-1999) und von Juli 2013 bis Juni 2014 Außenminister von Ägypten. Er war Mitglied der ägyptischen Delegation bei den Madrider Friedensprozessen 1991. Von 2009 bis 2022 war er Gründungsdekan der »School of Global Affairs and Public Policy« an der American University Cairo.

Von: 
Daniel Gerlach und Philipp Peksaglam

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