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Interview mit Raji Sourani

»In Gaza gilt das Gesetz des Dschungels«

Interview
von Jan Ludwig

Weil Raji Sourani seit mehr als 35 Jahren für Opfer von Menschenrechtsverletzungen eintritt, erhält der Palästinenser den Alternativen Nobelpreis 2013. Ein Interview über »Ehrenmorde«, Kafka und die lebensgefährliche Arbeit in Gaza.

zenith: Herr Sourani, wir gratulieren zur Auszeichnung mit dem Alternativen Nobelpreis 2013.

Raji Sourani: Vielen Dank.

 

Wann haben Sie von der Auszeichnung erfahren?

Am Donnerstagmorgen in meinem Büro in Gaza kam der Anruf. Es war eine Genugtuung, wenn da eine Stimme aus dem hohen Norden anruft und sagt: »Wir denken an Sie! Wir haben Sie nicht vergessen! Wir unterstützen Ihren Kampf für Menschenrechte.«

 

Ihnen wurde der Preis für Ihr »beharrliches Engagement für Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit unter extrem schwierigen Bedingungen« verliehen. Was macht diese Umstände so schwierig?

In Gaza herrscht das Gesetz des Dschungels. Fast 90 Prozent der Bewohner beziehen Lebensmittel von Hilfsorganisationen, unser Trinkwasser ist fast ungenießbar, und wir können kaum rein und raus. Tag für Tag wird die Situation immer schlimmer. Dazu kommen die beiden Kriege von 2008/9 und 2012. Zwanzig Jahre nach den Osloer Verträgen haben wir hier das schlimmste Szenario, dass es je gab. Und in dieser kafkaesken Umgebung müssen wir unsere Arbeit machen und die Schwachen schützen.


 

Raji Sourani,

1953 in Gaza geboren, arbeitet als Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist in Palästina. Das von ihm gegründete »Palästinensische Zentrum für Menschenrechte« (PCHR) mit Sitz in Gaza prangert Menschenrechtsverletzungen durch Palästinenser wie auch durch Israelis an und unterstützt die Opfer vor Gericht. Sourani schult Anwälte aus vielen arabischen Ländern und ist Präsident der »Arabischen Organisation für Menschenrechte«.    


 
Gegen welche Menschenrechtsverletzungen kämpfen Sie? Gegen »Ehrenmorde« in Palästina? Gegen Vergehen der israelischen Armee?

Gegen beides. Man kann aber Ehrenmorde und Kriegsverbrechen nicht vergleichen. Die israelische Armee fuhr in den beiden Kriegen die modernsten Waffen auf, und trotzdem wurden Farmen angegriffen, zivile Häuser zerstört, Familien ausgelöscht. Da muss ich von vorsätzlichen Tötungen sprechen. Wir verteidigen ja keine Militanten – wir schützen Zivilisten. Selbst Fischer können nicht ungestört aufs Meer hinaus fahren und fischen. Beinahe täglich werden sie abgedrängt, festgenommen oder beschossen.

 

Wer einen »Ehrenmord« begeht, wird aber in Palästina zu lächerlich geringen Strafen verurteilt.

»Ehrenmorde« sind individuelle Verbrechen. Es sind hässliche Verbrechen. Sie haben aber weniger mit dem religiösen Hintergrund zu tun als mit dem sozialen. »Ehrenmörder« erhalten in der Tat eine viel zu geringe Strafe. Damit ermutigt man Leute zu solchen Taten. Aber Mord ist Mord, und deshalb protestieren wir dagegen.

 

Wie muss man sich die Arbeit Ihres »Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte« vorstellen?

Die Arbeit beginnt unseren Mitarbeitern vor Ort, die sowohl in Gaza wie auch im Westjordanland Informationen über Verbrechen sammeln. Diese Daten werden dann von Anwälten geprüft, und falls Aussicht auf Erfolg besteht, klagen wir vor den zuständigen Gerichten. Nach dem Krieg von 2008/9 haben wir zum Beispiel Schadenersatzklagen für zivile Opfer des Krieges eingereicht.

 

Mit Erfolg?

Wir haben nur sehr wenige Fälle gewonnen, die wir vor Gericht gebracht haben. Das liegt allerdings nicht daran, dass wir nicht professionell arbeiten würden. Das Gerichtssystem von Israel deckt viele Untaten der Soldaten.

 

»Nichts hat mich so sehr traumatisiert wie meine Festnahme durch Jassir Arafats Leute«

 

Sie haben einmal gesagt, der Kampf gegen die Ungerechtigkeiten der eigenen Regierung sei schwieriger als der gegen die israelische.

Die Formel gegen die Besatzung ist ja klar: Wir haben eine eindeutige Agenda, wir haben einen klaren Feind. Aber wenn es um den Kampf innerhalb Palästinas geht, liegen die Dinge sehr viel komplizierter. Ich bin mehrmals von israelischer Seite festgenommen und inhaftiert worden, auch gefoltert. Aber nichts hat mich so sehr traumatisiert wie meine Festnahme durch Jassir Arafats Leute.

 

Was ist damals passiert?

Im Jahr 1995, als Arafat noch wie der unangefochtene König von Palästina regierte, bin ich festgenommen worden. Ich hatte mich gegen Folter ausgesprochen und vor allem gegen die palästinensischen Staatssicherheitsgerichte, bei denen Angeklagte sich keinen Anwalt nehmen dürfen, nachts einem Richter vorgeführt und meist schon nach Minuten verurteilt werden. Ich war damals einfach zu naiv.

 

Wie meinen Sie das?

Es hat mich schockiert, dass ich von den eigenen Leuten angegriffen wurde. Ich hatte immer für Palästina gekämpft, und jetzt wurde mein Recht auf freie Meinungsäußerung missachtet. Aber wer für das Recht kämpft, darf nicht zwischen politischen Gruppen unterscheiden. Da habe ich dann beschlossen, das »Palästinensische Zentrum für Menschenrechte« in Gaza zu gründen.

 

»Niemand bezweifelt unsere Glaubwürdigkeit«

 

Heute herrscht die autoritär regierende Hamas im Gazastreifen. Deren Methoden sind bekanntlich nicht besser als die unter Arafat. Hat Ihnen jemand zu Ihrem Preis gratuliert?

Ja. Aber wissen Sie: Unsere Beziehungen zur Hamas-Regierung sind ein bisschen vertrackt. Wir werden dafür gefeiert, wenn wir über israelische Kriegsverbrechen berichten. Wenn wir aber Kritik am Geheimdienst in Gaza üben, sieht man das weniger gerne. Die israelische Regierung wiederum freut sich, wenn wir gegen Hamas-Gruppen protestieren. Wenn es um sie selbst geht, hassen sie uns.

 

Es gibt aber durchaus ernstzunehmende Stimmen, die Ihnen vorwerfen, parteiisch zu sein und das humanitäre Völkerrecht zu Ihren Gunsten umzubiegen. Es kam vor, dass Militante als Zivilisten deklariert wurden.

Wir machen einfach nur unsere Arbeit als unabhängige Rechtsexperten. Meiner Meinung nach bezweifelt auch niemand unsere Glaubwürdigkeit. Wir werden zwar von der Besatzungsmacht kritisiert. Aber ich höre da nicht hin. All unsere Berichte werden gegengecheckt, und deshalb werden wir überall auf der Welt respektiert.

 

Die größte Notlage für Palästinenser besteht derzeit wohl in Syrien: Mehr als tausend Palästinenser sind im Krieg umgekommen, Tausende sind geflohen, aber der Libanon und Jordanien haben ihnen sogar zeitweilig die Aufnahme verweigert. Wie können Sie helfen?

Es liegt nicht in unserem Einflussbereich, deshalb ist es schwer, ihnen beizustehen. Aber wir kooperieren so gut wir können mit Organisationen im Libanon und in der Türkei. Und wir schulen syrische Anwälte und Aktivisten darin, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, damit die Täter später bestraft werden. Wir selbst können leider nichts für sie tun.

Von: 
Jan Ludwig

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