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Das Erbe des IS im Nordosten Syriens

Ein Schatten hängt über Deir Al-Zur

Feature
Das Erbe des IS im Nordosten Syriens

Im Osten Syriens konnte sich der sogenannte Islamische Staat (IS) einst breit machen. Um einer Rückkehr der Islamisten effektiv vorzubeugen, sollte den Stämmen vor Ort mehr Teilhabe und Mitsprache eingeräumt werden – denn Kurden und Araber teilen ein ähnliches Trauma.

Das Gouvernement Deir Al-Zur im Osten Syriens gehörte von Beginn des Aufstandes an zu den Gebieten, in denen der Widerstand gegen die Regierung in Damaskus am stärksten war. Proteste fanden vor allem in Al-Bukamal, Al-Qurya und der Stadt Deir Al-Zur selbst statt. Alle diese Gebiete liegen westlich des Euphrats, was bemerkenswert ist, da von dort vor 2011 keine sozialen Bewegungen ausgingen.

 

Die schwierige geografische Lage inmitten der Syrischen Wüste, der Badia, hat jedoch dazu geführt, dass dieser Teil der Revolution auch medial fast untergegangen ist. So wurde die Geschichte des Aufstands vor allem in Damaskus, den zentralen Landesteilen und in Nordsyrien geschrieben. Die Proteste in Deir Al-Zur im Osten Syriens verkamen zur Randnotiz.

 

Wer verstehen will, wie der sogenannte Islamische Staat (IS) in Deir Al-Zur inmitten des kurdisch-arabischen Konfliktes wieder zu alter Stärke aufsteigen will, muss einen Blick auf die Geschichte dieses Landesteils werfen. Genauer gesagt, was hier aufgrund des Kriegs weggebrochen ist und die Bevölkerung einst zusammenhielt. Dazu muss man auch verschiedene Gebiete innerhalb des Gouvernements in unterschiedlichen Phasen des Konflikts analysieren.

 

Da ist zum einen die Stadt Deir Al-Zur, die unter der Kontrolle der syrischen Regierung und ihrer iranischen Verbündeten steht. Daneben die Gebiete zwischen Al-Bukamal an der irakischen Grenze bis hinauf nach Deir Al-Zur sowie die Gegend, die sich nach Al-Hasaka im Norden zieht.

 

Die Proteste in Deir Al-Zur im Osten Syriens verkamen 2011 zur Randnotiz

 

Die folgende Analyse konzentriert sich auf das Gebiet zwischen Al-Bukamal und Al-Mayadin. Eine konfliktreiche Region, die einst das Kernland des IS bildete und sich über beide Ufer des Euphrat erstreckt. Während die Shamiya, das südliche Ufer des Euphrats, von der syrischen Regierung und iranischen Milizen regiert wird, ist das Gebiet nördlich des Euphrats unter der Kontrolle der »Demokratischen Kräfte Syriens« (SDF) wie auch der internationalen Koalition, die den IS bekämpft. Während in der Stadt Deir Al-Zur der Einfluss der Stämme ausgeglichen verteilt und kein Familienverband größer als der andere ist, dominieren die Uqaidat die jeweiligen Ufer des Euphrats. Diese geografische Verteilung sowie die Unterscheidung zwischen Jazira im Norden und Shamiya im Süden helfen, die Dynamiken im Gouvernement zu verstehen.

 

Seit Beginn des Krieges 2011 haben sich die Machtverhältnisse in Deir Al-Zur mehrfach grundlegend verändert. Zu Beginn des Konflikts wurde die Region von der »Freien Syrischen Armee« (FSA) kontrolliert, früh wurden Militärräte abgehalten und Sicherheitsallianzen geschmiedet. So gelang es den Aufständischen, die Städte Al-Bukamal und Al-Mayadin sowie deren Umland einzunehmen. Das Herz der Region, die Stadt Deir Al-Zur selbst, konnten die Rebellen jedoch nicht unter ihre Kontrolle bringen.

 

Dem raschen Aufstieg der FSA folgte ein ebenso schneller Niedergang. Den Aufständischen fehlte es an Struktur, Organisation und Verwaltung. Die Nusra-Front eroberte Al-Bukamal und rückte immer weiter nach Westen vor. Die Islamisten schürten die Angst vor einem Bündnis säkularer Kräfte – und vor der Demokratie. Wer mit dem Regime in Damaskus oder der FSA paktierte, galt als Häretiker. Die Gräueltaten der Nusra-Front ließen bei der Bevölkerung in Al-Bukamal, Al-Mayadin und vielen Gemeinden östlich des Euphrat schnell die Hoffnung auf eine gemeinsame Revolution schwinden.

 

Mit der Ausdehnung ihres Einflussgebietes nach Westen wurde die Nusra-Front auch zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor, da die Islamisten die Grenze zum Irak und den dortigen Handel kontrollierten. Ursprünglich vom IS nach Syrien geschickt, um dort eine weitere »Front des Sieges« zu bilden, schloss sich die Gruppe nach der Spaltung von IS und Al-Qaida in Syrien letzterer an. Aus Verbündeten wurden Erzfeinde.

 

Dem raschen Aufstieg der FSA folgte ein ebenso schneller Niedergang

 

Nachdem Al-Bukamal im Juni 2014 durch geheime Absprachen einiger Nusra-Anhänger mit dem eigentlich verfeindeten IS in dessen Hände fiel, wurde Deir Al-Zur in die Verwaltungsstruktur des entstehenden transnationalen IS-Territorium eingegliedert. Erst fünf Jahre später gelang es der internationalen Allianz, an der neben den Amerikanern vor allem russische und kurdische Streitkräfte beteiligt waren, den IS zurückzudrängen und schließlich zu besiegen. Damit gerieten die Gebiete östlich des Euphrats faktisch unter die Kontrolle der SDF, die die Region bürokratisch, politisch und wirtschaftlich verwalten.

 

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie die diskriminierende Politik aller Besatzungsmächte, Vertreibung und Repression letztlich den Nährboden für den Islamismus bereitete. Bis auf die kurze Zeit, in der sich die FSA für eine zivile Verwaltung durch einheimische Familienverbände einsetzte, war Deir Al-Zur fremdbestimmt: Von der syrischen Armee, der Nusra-Front, dem IS und zuletzt von den Kurden unter der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens. Sie alle marginalisierten die dort organisierten Stämme.

 

Die arabischen Stämme waren in diesen Jahren nicht in der Lage, ihre Ansichten in die Verwaltung der Region einzubringen. Im Gegenteil – die alteingesessenen Scheichs vermissten den Respekt und die Wertschätzung, die man ihnen in der Zeit vor dem Bürgerkrieg gezollt hatte. Und so verließen viele von ihnen Deir Al-Zur in Richtung Damaskus, darunter auch die einflussreichen Brüder Ayman und Raja Dahham Al-Dandal, deren Stamm großes Ansehen genießt. Bis heute leben sie in der syrischen Hauptstadt, auch wenn sie stets Distanz zum Regime gehalten haben.

 

Die Marginalisierung der arabischen Stämme in Deir Al-Zur über mehr als ein Jahrzehnt hat unter ihnen die Überzeugung gefestigt, dass keine Kriegspartei in ihrem Sinne handelt – und keine Herrschaft von Dauer sein wird. Kooperationen hielten nie lange, der Aufbau einer funktionierenden Zivilverwaltung hatte für keine Besatzungsmacht Priorität. Eine Entwicklung, die letztlich auch den Zusammenhalt zwischen und innerhalb der Stämme zersetzte. Zum Beispiel bei den Uqaidat, die sich zum Teil mit den SDF verbündeten, zum Teil aber auch gegen diese Kräfte auflehnten.

 

Unter der Herrschaft und Gewalt der Nusra-Front waren die Stämme völlig marginalisiert und ausgegrenzt. Etwas besser gestaltete sich ihre Situation unter dem IS, der sie lediglich zum Schweigen brachte, aber nicht bekämpfte, solange ihre traditionelle Autorität nicht die Sicherheitsinteressen und militärische Vorherrschaft der Islamisten herausforderte. Zwar versuchten die SDF, den Stämmen gegenüber respektvoll aufzutreten und sie an der Verwaltung zu beteiligen, doch zu einer wirklichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Kurden und Arabern kam es nie – am Ende entschied immer der syrische PKK-Ableger, die »Volksverteidigungseinheiten« (YPG).

 

Zu einer wirklichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Kurden und Arabern kam es nie

 

Im kollektiven Gedächtnis der Stämme gilt daher die Zeit vor 2011 beinahe als goldene Ära. Sie genossen gesellschaftliche und staatliche Privilegien, darunter die Bevorzugung der Söhne der Scheichs bei der Besetzung von Regierungsämtern. Auch wenn keine Loyalitätsgarantie gegenüber Damaskus bestand, so handelte es sich doch um ein stillschweigendes Arrangement. Privilegien und Prestige als Gegenleistung für Rückendeckung, sollte irgendein Akteur die Regierung herausfordern.

 

Unter diesen Vorzeichen brachen im Spätsommer 2023 die Spannungen zwischen den arabischen Stämmen in Deir Al-Zur und den Kurden in offene Auseinandersetzung um. Die Unzufriedenheit hatte sich über Jahre aufgestaut und entzündete sich schließlich, als der zwielichtige Geschäftsmann Ahmed Al-Khubail am 27. August von kurdischen Sicherheitskräften verhaftet wurde. Die Stämme witterten eine weitere Verschärfung der kurdischen Fremdherrschaft und griffen zu den Waffen – obwohl Al-Khubail auch unter ihnen als umstritten galt. Nach zwei Wochen wurde, vermutlich unter US-amerikanischer Vermittlung, ein Waffenstillstand ausgehandelt. Doch die Spannungen bleiben.

 

Dass es auch anders geht, zeigt sich im Osten Syriens. Zwischen den Städten Al-Busayra und Al-Baghuz steht das Land unter arabischer Verwaltung. Auch der IS konnte hier nicht Fuß fassen, Berichte über islamistische Schläferzellen kamen aus dem kleinen Gebiet so gut wie nie. Dem IS, der vor allem mit einzelnen, schnellen Überfällen auf kurdische Einrichtungen operiert, fehlte hier schlicht ein Ziel. Anschläge und Waffengewalt sind auch hier zu verzeichnen, aber die Sicherheitslage verbessert sich insgesamt.

 

Zwar führen die kurdischen Sicherheitskräfte immer wieder Operationen durch, um der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass sie der einzig verlässliche Partner im Kampf gegen den IS sind. Dabei beschränken sie sich jedoch auf die Verhaftung von Islamisten, die dem IS zugerechnet werden. Entsprechend hat der Uqaidat-Stamm seit den Gefechten im August mehrfach betont, dass man auf der Hut sei vor Islamisten, die versuchen, die eigenen Reihen zu unterlaufen.

 

Auf die Scheichs der arabischen Stämme zu setzen, wäre ein wichtiger erster Schritt

 

Gerade die arabischen Stämme haben unter der Besatzung des IS massiv gelitten, und ein Erstarken der Islamisten kann kaum in ihrem Interesse sein. Nicht zuletzt, weil dies die kurdischen Sicherheitskräfte in Zusammenarbeit mit den USA zu einem erneuten Eingreifen zwingen würde.

 

Der IS existiert in seiner ursprünglichen Form nicht mehr, seine Anhänger werden in Deir Al-Zur wenn, dann aus dem Untergrund heraus aktiv. Von der Vorstellung einer territorialen Kontrolle oder davon, größere Teile Syriens direkt zu beherrschen, hat sich die Organisation verabschiedet. Deir Al-Zur ist für den IS auch nicht mehr das einfache Ziel, das es in den ersten Kriegsjahren war. Die Menschen dort haben ihre Erfahrungen mit den Islamisten gemacht.

 

Doch spätestens mit dem neuen Konflikt seit Spätsommer 2023 wird deutlich, dass die Lage in Deir Al-Zur nach wie vor angespannt ist. Neue Ansätze sind gefragt. Auf die Scheichs der arabischen Stämme und mehr Selbstverwaltung zu setzen, wird nicht alle Probleme des Gouvernements lösen, aber es wäre ein wichtiger erster Schritt. Stammesälteste in Deir Al-Zur haben die internationale Koalition gebeten, sich bei deren SDF-Partnern für eine Autonomieregelung einzusetzen, auch um die Abwesenheit des IS eigenständig zu gewährleisten und so Sicherheitsverantwortung wahrzunehmen. Allerdings blieben Forderungen seitens der Koalition unbeantwortet. Der Eindruck einer andauernden Fremdbesatzung hängt damit weiter wie ein Schatten über Deir Al-Zur.


Abdullah Al-Ghadhawi ist Journalist und Analyst und schreibt unter anderem für das »New Lines Institute« und »Chatham House«.

Von: 
Abdullah Al-Ghadhawi

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