Syrien-Experte Nir Boms über Israels Sicht auf den Nachbarn, die Beweggründe für den Angriff auf Damaskus – und was für beide Länder auf dem Spiel steht.
zenith: Was steckt hinter Israels Angriff auf den Präsidentenpalast und das Militärhauptquartier in Damaskus Mitte Juli?
Nir Boms: Das hat auch mit den Milizen zu tun, die bereits im März und im Mai und nun abermals in Suweida wüten. Sie griffen gezielt Minderheiten an und zwangen Frauen ihre Kleidungsvorschriften auf. Israel hat erklärt, man werde Ahmad Al-Scharaa bei der Verwirklichung eines inklusiven Systems zu unterstützen – und auch handeln, wenn es den Eindruck hat, dass die getroffenen Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Und eben diesem Punkt sah man nun offensichtlich gekommen.
Welches strategische Ziel verfolgt Israel in Syrien?
Israel hat betont, dass die Minderheitenfrage im größeren Kontext ein Indikator dafür sei, in welche Richtung Syrien sich entwickelt. An all diesen offiziellen Positionen hat sich grundlegend nichts geändert. Sicherheitspolitisch will man verhindern, dass Waffen im Süden näher an die eigenen Grenzen rücken und zur potenziellen Bedrohung für Israel werden.
Was steht für Israel langfristig auf dem Spiel?
Israel hat erklärt, man wolle die Beziehungen zu Syrien neu ausrichten. Offiziell wünscht man sich, dass die neue syrische Regierung ihre Vision eines Landes, das seine Minderheiten respektiert und nicht auf Gewalt setzt, in die Tat umsetzt. Wenn Syrien nun Gaza ähnlicher werden sollte, wird es für Israel schwieriger: Anstatt gute Nachbarschaftsbeziehungen aufzubauen – wie wir es teilweise in den vergangenen Monaten angestoßen haben – drohen wir am Ende einen militanteren Diskurs das Feld zu bereiten. Grundlegend liegt es in Israels Interesse, Ahmad Al-Scharaas Vision eines inklusiven Syriens zu unterstützen und in Zukunft mit Syrien zu kooperieren. Deswegen glaube ich nicht, dass eine Eskalation das Ziel ist.
Verschärft denn Israel die Situation in Syrien nicht durch die militärische Intervention?
Das kommt darauf an, wen man fragt. Israel reagierte auf die Massaker, die von dschihadistische Milizen in den vergangenen Tagen, gedeckt vom syrischen Verteidigungsministerium, in Suweida verübt haben. Natürlich betreffen diese Gräueltaten Israel, weil es sich bei den Opfern um Mitglieder der drusischen Minderheit handelt – und oft auch um Familienangehörige israelischer Drusen.
»Wir sprechen hier von einem sehr komplexen, aber dennoch lokal begrenztem Schauplatz«
Wie fallen in Israel die Reaktionen auf die Militäroperation aus?
Natürlich ist das ein großes Thema in Israel. Die drusische Minderheit fordert weitere Maßnahmen. Einige Politiker bringen gar einen erneuten Regimewechsel ins Gespräch. Ich denke, wir müssen auch hier deeskalieren. Israel hatte insgesamt die Hoffnung, dass die Instabilität, die im März nach den Massakern an der syrischen Küste und dann im Juni bei den Unruhen in Jaramana sichtbar wurde, sich nicht ausbreitet. Man wünscht sich ein Syrien, das eine Zukunftsperspektive hat und mit dem Handel treiben kann. Ich denke, das ist immer noch möglich. Aber ich halte es für wichtig, dass die radikalen Elemente geschwächt werden, und zwar auf allen Seiten. Denn ich kenne viele Syrer, die Freunde, Verbündete und Partner für eine bessere Zukunft sind.
Dient die Militäroperation in Syrien auch dem Zweck, von der Situation in Gaza abzulenken?
Ganz grundsätzlich spielt Gaza natürlich auch hier mit rein. Allerdings handelt es sich in Syrien nicht um eine Situation, die Israel geschaffen hat, sondern auf die man reagieren musste. Man sah sich gezwungen zu handeln, weil Abkommen vor Ort gebrochen wurden, die die Destabilisierung weiter verstärken und näher an unsere Grenze rücken lassen. Ich werde nicht behaupten, dass ich mit jedem Teil der israelischen Politik einverstanden bin. Tatsächlich habe ich noch vor kurzem in der Knesset mit einem syrischen Freund über das Potenzial einer anderen Realität in der Region gesprochen. Zwei Tage später sieht es leider wieder anders aus.
Inwiefern waren die USA in diese Militäroperation eingebunden und wie passte sie zu den diplomatischen Annäherungen mit der syrischen Übergangsregierung?
Ich glaube nicht, dass die Amerikaner dahinterstecken. Lassen Sie uns etwas genauer hinschauen. Wir sprechen hier von einem sehr komplexen, aber dennoch lokal begrenztem Schauplatz, der auch an den grundlegenden Parametern nichts verändert und die lauten: Deeskalation und Beruhigung der Lage im Süden Syriens. Ich glaube nicht, dass Israel an einer Fragmentierung interessiert ist. Präsident Ahmad Al-Scharaas Forderung nach einem einheitlichen Militär unter einer Führung, die allein das Gewaltmonopol innehat, unterstützen wir. Wir wollen nicht, dass Syrien sich so wie einst der Libanon entwickelt. Aber das funktioniert nur, wenn staatliche Institutionen wie das Verteidigungsministerium allen Syrern Schutz bieten und nicht die schützende Hand über islamistische Milizen hält.
Nir Boms