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Interview über die Wahrnehmung des Gaza-Kriegs

»Unser Schmerz verdient Gehör«

Interview
Interview über die Wahrnehmung des Gaza-Kriegs
privat

Die Deutsch-Palästinenserin Iman Abu El Qomsan hat über 80 Familienmitglieder in Gaza verloren. Ein Gespräch darüber, die Hilf- und Sprachlosigkeit zu überwinden – und welchen Beitrag die deutsche Gesellschaft dafür leisten kann.

zenith: Das Schicksal Ihres Großcousins Mohamed Abu El Qomsan, dessen neugeborene Zwillinge und Frau in seiner Abwesenheit durch das israelische Militär getötet wurden, erhielt Mitte August viel Aufmerksamkeit in den internationalen Medien. Wie haben Sie das miterlebt?

Iman Abu El Qomsan: Die Videos meines Großcousins waren allgegenwärtig, es war einfach surreal und ab einem gewissen Punkt nicht mehr zu ertragen. Man befindet sich in einem ständigen Zustand der Retraumatisierung und die Welt sieht zu, während das Leben meiner Liebsten zerstört wird. Meine Familie ist sehr groß und mittlerweile in Gaza zerstreut, damit im Falle einer Bombardierung nicht alle auf einmal sterben. Die Furcht vor Nachrichten über meine Familie ist ständig präsent und ich suche immer nach unserem Nachnamen unter den Opfern. Ein Waffenstillstand wäre das Mindeste, was wir bräuchten, um nicht ständig in Angst zu leben, dass jeden Moment jemand stirbt.

 

Wie viele Familienmitglieder haben Sie seit dem 7. Oktober in Gaza verloren?

Bereits über 80. Innerhalb von zwei Wochen wurden 55 Familienmitglieder getötet, Ende Oktober habe ich 19 auf einen Schlag verloren.

 

Haben Sie die Möglichkeit, Kontakt zu Ihrer Familie in Gaza zu halten?

Es ist eine große Herausforderung. Ich schreibe viel mit meinen Cousins über WhatsApp oder Instagram, aber sie antworten oft erst nach vier oder fünf Tagen. Meine Mutter telefoniert über Facebook, aber das klappt auch nicht immer.

 

Können Sie auf irgendeine Art direkte Unterstützung leisten?

Ja, ein Kiosk in Gaza steht noch, und über den kann man per MoneyGram Geld überweisen. Das nutzen wir, es ist momentan die einzige Möglichkeit, meiner Familie zu helfen.

 

»Ich erkannte auf den Bildern die bombardierten Häuser wieder, in denen ich als Kind viel Zeit verbracht habe«

 

Und darüber hinaus?

Wir können von hier aus nur Geld verschicken, aber wenn vor Ort Lebensmittel und Medikamente fehlen, bringt auch das wenig. Das Schlimmste ist, das Leid live mitzuerleben und nichts tun zu können. Zum Beispiel liegt meine Oma seit Tagen im Krankenhaus. Wir wissen, dass es ihr schlecht geht und sie Medikamente braucht, die nicht verfügbar sind. Diese Hilflosigkeit ist schwer zu ertragen. Auch von den Bombardierungen, durch die ich Familienmitglieder verloren habe – in Dschabaliya im Oktober und in Sheikh Radwan im November, als meine Tante getötet wurde – erfuhr ich aus dem Fernsehen. Ich erkannte auf den Bildern die bombardierten Häuser wieder, in denen ich als Kind viel Zeit verbracht habe. Das war auch der Punkt, an dem ich mich entschloss, mich stärker zu engagieren und darüber zu sprechen, was mir und meinen Familienmitgliedern widerfährt.

 

Ihre Eltern kamen in den 1990er-Jahren aus Gaza nach Deutschland, Sie sind in Deutschland geboren. Was bedeutet Ihnen Ihre Herkunft?

Aufgrund der aktuellen Situation in Gaza fühle ich mich noch stärker damit verbunden, besonders weil ich nicht aus meiner Trauer herauskomme. Zu wissen und zu erleben, wie viel mehr Rechte man in Deutschland hat, war schon immer schwierig. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Gaza und meine Familie die gleichen Rechte haben wie ich hier und in Frieden und Sicherheit leben können. Es kann nicht sein, dass meine Verwandten aufgrund der israelischen Blockade in den letzten 20 bis 30 Jahren das Land nicht verlassen konnten oder dass meine Cousine mit fünf Jahren schon zwei Kriege miterleben musste. Aber für mich waren sowohl Deutschland als auch Palästina immer meine Heimat, und daran hat sich nichts geändert. Auch jetzt nicht, wo das Leid in Palästina noch viel präsenter ist und das Vorgehen der Bundesregierung mich enttäuscht.

 

Wie fühlt es sich an, als Palästinenserin in Deutschland zu leben und was hat sich seit dem 7. Oktober verändert?

Am Anfang habe ich mich sehr einsam gefühlt. Aber mittlerweile merkt man, dass die Bevölkerung weiter ist als die Politik. Es besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Diskurs und der politischen Realität sowie der Darstellung in weiten Teilen der Medien, was mir Hoffnung gibt, mich aber auch traurig stimmt. Ich erhalte täglich Solidaritätsbekundungen. Die Mehrheit der Menschen wünscht sich einen Waffenstillstand und ist gegen die fortgesetzte militärische Unterstützung Israels. In der Politik und in Teilen der Medien fehlt jedoch diese Unterstützung. Allerdings haben antimuslimische und antipalästinensische Hasskommentare in den Sozialen Medien stark zugenommen. Daran trägt die Politik eine Mitschuld, die eine solche Radikalisierung befördert.

 

Wie gehen Sie persönlich mit diesem Widerspruch um?

Es macht mich sehr traurig. Als Palästinenserin, die Deutschland als ihre Heimat versteht, fühle ich mich hier derzeit entfremdet und entmenschlicht. Menschenrechte sollten für alle gelten, aber die Politik stellt sich einseitig auf die Seite Israels, und auch in den Medien mangelt es an Reflektion. Ich wünsche mir, dass die Rechte von Palästinensern und Israelis gleichermaßen anerkannt würden.

 

»Natürlich muss jüdisches Leben überall und immer geschützt werden, aber das erreicht man nicht, indem man schweigt, wenn Palästinenser getötet werden«

 

Welche Fehler begehen Medien in Deutschland Ihrer Meinung nach bei der Berichterstattung zum Gaza-Krieg?

Sprache und Desinformation sind ein großes Problem. Viele Medien präsentieren oft nur die nackten Zahlen ohne Kontext. Sie benennen nicht klar, wer für den Tod der Menschen verantwortlich ist. Wenn dann auch noch behauptet wird, die Menschen in Gaza könnten in Bunkern Schutz suchen, was absolut nicht der Fall ist, zeigt das, wie wenig einige Reporter vor Ort informiert sind. Außerdem braucht es oft Tage, bis Ereignisse wie der Tod meines Großcousins in den deutschen Medien aufgegriffen werden.

 

Wie gehen Sie mit Vorwürfen um, dass palästinensische Journalisten Desinformationen verbreiten?

Palästinensische Perspektiven werden oft angezweifelt. Die Beweislast für palästinensische Todesfälle liegt bei uns, also den Opfern, während Berichte über israelische Opfer nie in Frage gestellt werden. Diese Doppelmoral ist schwer zu verstehen und belastend. Sind wir etwa keine Menschen? Haben wir keine Menschenrechte verdient? Warum werden unsere Aussagen so oft in Frage gestellt? Ich begreife es nicht. Doch eines weiß ich: Natürlich muss jüdisches Leben überall und immer geschützt werden, aber das erreicht man nicht, indem man schweigt, wenn Palästinenser getötet werden. Entweder leben wir alle friedlich zusammen, oder keiner lebt in Frieden. Anders geht es nicht. Die deutsche Geschichte bringt zu Recht eine große Verantwortung mit sich, dennoch kann der Tod von über 40.000 Menschen dadurch nicht gerechtfertigt werden.

 

Haben Sie Hoffnung auf eine politische Konfliktlösung zwischen Israelis und Palästinensern?

Nicht unter der derzeitigen israelischen Regierung, die ganz klar das Ziel verfolgt, Gaza zu zerstören und dessen Bevölkerung jegliche Menschlichkeit abspricht. Erst wenn israelische und palästinensische Leben gleichbehandelt werden, ist eine Annäherung möglich. Der Krieg in Gaza, die Besatzung im Westjordanland und die israelische Blockade müssen enden, und die Geiseln müssen freigelassen werden. Nur dann kann ein friedliches Zusammenleben, Seite an Seite, möglich sein. Das ist der zentrale Punkt und das wichtigste Ziel: Das Leben von Israelis und Palästinensern muss gleichermaßen geachtet und geschützt werden. Niemand darf unterdrückt werden. Die Gewalt muss ein Ende finden.

 

»Wir brauchen Räume, in denen Israelis und Palästinenser, die für Menschenrechte eintreten, zusammenkommen«

 

Welche Art der gesellschaftlichen Unterstützung dafür erhoffen Sie sich?

Ein zivilgesellschaftlicher Protest für einen Waffenstillstand wäre ein erster wichtiger Schritt. Wir müssen uns gemeinsam für Menschenrechte einsetzen und Druck auf die Bundesregierung ausüben, damit sie keine Waffenteile mehr exportiert – denn das tut sie immer noch. Die Demonstrationsfreiheit zu verteidigen ist grundsätzlich zentral. Auch die Protestcamps an den Universitäten sind wichtig, besonders wenn diese Hochschulen mit israelischen Rüstungsunternehmen zusammenarbeiten. Ich unterstütze diese Demos und Protestcamps, auch wenn sie teilweise in der Kritik stehen. Außerdem wünsche ich mir, dass man uns zuhört und uns Raum gibt – besonders in Anbetracht der Tatsache, dass die palästinensische Gemeinschaft in Deutschland die größte in Europa ist.

 

Wie sollen diese Räume aussehen?

Wir brauchen Räume, in denen Israelis und Palästinenser, die für Menschenrechte eintreten, zusammenkommen. Ich kann keine Räume mit Menschen teilen, die die Bombardierung und damit den Tod meiner Familie befürworten. Ich sehe jedes Leid, aber es gibt Grenzen.

 

Welche Erwartungen richten Sie an die palästinensische Diaspora?

Was ich hier erzähle, ist meine persönliche Geschichte. Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen trauen, ihre eigenen Erfahrungen öffentlich machen. Es ist wichtig, dass wir unsere Traumata teilen, die durch die Geschichte unserer Vorfahren geprägt wurden. Wir sind Teil dieses Landes, wir tragen zur Gesellschaft bei, und unsere Geschichten, unser Schmerz verdienen Gehör und Verständnis, nicht Misstrauen. Das sollte unsere Botschaft an unsere deutsche Heimat sein: Misstraut uns nicht, sondern hört uns zu.


Iman Abu El Qomsan studiert Chemieingenieurwesen in Münster. Über soziale Medien hat sie in den letzten Monaten durch ihre Beiträge zur Situation in Gaza und ihrem Einsatz für universelle Menschenrechte Tausende Menschen erreicht.

Von: 
Meryem-Lyn Oral

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