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Indonesien und der Nahostkonflikt

Ein indonesisches Krankenhaus in Palästina

Analyse
Indonesien und der Nahostkonflikt

Das bevölkerungsreichste Land der muslimischen Welt hat sich den Kampf gegen den Kolonialismus in die Verfassung geschrieben und unterstützt die palästinensische Sache nicht nur mit Worten.

Anfang November 2023 versammeln sich zwei Millionen Indonesier, gekleidet in weiße Gewänder und die Kuffiya, am Nationaldenkmal in Jakarta zu einer Solidaritäts-Kundgebung für Palästina. »Gott ist groß« und »Freies Palästina« gehören zu den gängigsten Slogans der Demonstration. Mehrere prominente Persönlichkeiten betreten die Bühne: Außenministerin Retno Marsudi trägt ein eigens verfasstes Gedicht vor, Religionsminister Yaqut Cholil Qoumas hält ebenso eine Rede wie der oppositionelle Präsidentschaftskandidat Anies Baswedan. Der Ulema-Rat, Indonesiens oberste islamische Körperschaft, hat die Kundgebung anberaumt. Das Spektrum der Teilnehmenden reicht von religiösen Führern über Aktivisten bis hin zu Regierungsbeamten. Einige reisen eigens für die Teilnahme aus verschiedenen Städten auf der Insel Java an.

 

Im Vergleich zu Staaten im Nahen Osten wie Katar und Ägypten fehlt es Indonesien an der geografischen Nähe oder dem diplomatischen Einfluss, der für Vermittleraktivitäten in Gaza erforderlich ist. Dennoch sind die Themen Nahostkonflikt und Palästina bedeutsam, sowohl für die indonesische Regierung wie auch den Großteil der Bevölkerung. Das hat auch historische Gründe.

 

Nationalismus und Antikolonialismus sind in der indonesischen Verfassung verankert

 

Schon der erste Präsident des Landes machte Indonesiens Haltung deutlich: »Solange die Freiheit Palästinas den Palästinensern noch nicht zurückgegeben wurde, wird Indonesien der Besatzung durch Israel trotzen«, sagte Sukarno (1901-1970) im Jahr 1962. Indonesien war im Laufe seiner Geschichte mit erheblichen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen konfrontiert, doch die Solidarität mit Palästina stand nie zur Debatte.

 

Erstens sind Weltanschauung und Identität in Indonesien, wie in vielen Ländern des globalen Südens, maßgeblich von der Kolonialgeschichte geprägt. Nationalismus und Antikolonialismus sind in der indonesischen Verfassung verankert, in der es heißt: »Unabhängigkeit ist das unveräußerliche Recht aller Nationen, daher muss jeglicher Kolonialismus auf dieser Welt abgeschafft werden, da er nicht im Einklang mit Menschlichkeit und Gerechtigkeit steht.« Indonesische Offizielle zitieren diese Passage in ihrer Verfassung regelmäßig, wenn sie über Palästina sprechen, und sehen die Ursache des Nahostkonflikts in der israelischen Besatzung.

 

Die Mehrheit der frühen Intellektuellen, Religionsgelehrten und politischen Denker Indonesiens bediente sich in irgendeiner Form nationalistischer und antikolonialistischer Rhetorik, da sie ein ähnliches Ziel verfolgten: Widerstand, gegen die Niederländer, die Japaner, und dann wieder die Niederländer. Dieser Widerstand ging nach der Unabhängigkeitserklärung Indonesiens im Jahr 1945 weiter, da sich das Land bis 1949 weiterhin niederländischer Souveränitätsansprüche erwehren musste. Diese Zeit war nicht nur geprägt vom bewaffneten Kampf, sondern ebenso von politischer Konsolidierung sowie diplomatischer Mobilisierung. Diese Bemühungen unterscheiden sich aus indonesischer Sicht also nicht wesentlich vom palästinensischen Kampf um Freiheit und Anerkennung.

 

Zentral für das indonesische Engagement im Nahostkonflikt war das »Indonesische Krankenhaus« in Bait Lahia

 

Die Kolonialgeschichte hat auch Indonesiens Außenpolitik geprägt und findet ihren Ausdruck in der Doktrin, die unter der Bezeichnung »Bebas Aktif«, zu Deutsch »Frei und Aktiv« bekannt ist. »Frei« bezieht sich auf die außenpolitische Positionierung Indonesiens. Immerhin konstituierte sich die Bewegung der Blockfreien Länder 1955 im indonesischen Bandung. »Aktiv« wiederum soll auf Indonesiens Beitrag zur globalen Friedensschaffung hinweisen. Mit der Unterstützung Palästinas folgt Indonesien nicht nur der in seiner Verfassung verankerten Gegnerschaft zum Kolonialismus, sondern auch dem Bekenntnis zu Frieden und Gerechtigkeit in seinen internationalen Beziehungen.

 

Außenministerin Retno Marsudi nutzt dafür verschiedene internationale Foren, etwa die »Organisation für Islamische Zusammenarbeit« (OIC) oder auch den Internationalen Gerichtshof (IGH). Indonesien hat im Januar etwa beim IGH Klage gegen die Besatzung in den Palästinischen Gebieten eingereicht.

 

Außerdem versucht die Regierung, sich über humanitäre und medizinische Unterstützung einzubringen. Indonesien hat seit 2020 über 20 Ländern Hilfe geleistet und etwa 2.700 UN-Friedenstruppen in verschiedene globale Konfliktgebiete entsandt. Damit ist man der sechstgrößte Geber von Militär- und Polizeipersonal der UN-Friedenstruppen. Zentral für das indonesische Engagement im Nahostkonflikt war das »Indonesische Krankenhaus« in Bait Lahia im Norden des Gazastreifen. Dessen gewaltsame Räumung und Umwandlung in eine temporäre Basis der israelischen Armee Ende November löste in der indonesischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus.

 

Auch die Solidarität als Glaubensgenossen spielt hier eine Rolle. Als Nation mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt ist es nicht verwunderlich, dass religiöse Organisationen die Wahrnehmungen über Palästina mitgestalten, die wiederum auch das nationale politische Narrativ prägen. Der Einfluss dieser Gruppen reicht tief in die indonesische Gesellschaft. Insbesondere Bruderschaften wie »Nahdlatul Ulama« unterstützen die palästinensische Unabhängigkeit bereits seit 1938, während die »Muhammadiyah« bereits seit den 1960er-Jahren den Palästinensern humanitäre Hilfe leistet.


Pieter Pandie ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim indonesischen Thinktank »Centre for Strategic and International Studies« (CSIS).

Von: 
Pieter Pandie

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