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Palästinensische Diaspora und der Blick auf Gaza

Von der Gegenwart getrennt

Essay
Palästinensische Diaspora und der Blick auf Gaza

Im Gaza-Krieg zeigen sich viele Palästinenser solidarisch und engagieren sich. Die Perspektive der Diaspora gerät oft aus dem Blick. Dabei kann sie Antworten auf drängende Fragen geben.

Ich habe meine Familie in der zweiten Nacht des Ramadan 2024 verloren. Auch wenn die Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sie nicht zurückbringen, so rücken sie doch ihr Leben und das Leben Tausender anderer, die unter diesem Krieg gelitten haben, in den Mittelpunkt.

 

Der Verlust meiner Lieben in einer Zeit, die eigentlich zu Frieden und Besinnung aufruft, ist Teil einer Realität, die niemanden verschont. Die Tatsache, dass ich sie vor ihrem Tod zehn Jahre lang nicht gesehen habe, macht meinen Verlust noch tragischer. Gleichzeitig fassen diese Umstände die Essenz der palästinensischen Diaspora-Erfahrung und unserer Sicht auf den Gaza-Krieg zusammen.

 

Das letzte Mal war ich 2014 in Gaza. Meine Heimat ist ein verschwommener Traum, eine verklärte Erinnerung. Ich entsinne mich, wie ich mit meiner Familie am Strand war und ein kleines Loch in den Sand grub, um eine Wassermelone vor der Sonne zu schützen.

 

Mein Onkel zeigte auf den Horizont, auf die Schiffe der israelischen Küstenwache. Selbst am Wasser fühlte sich Gaza wie ein Gefängnis an. Dieser Zustand war Normalität für alle, die dort aufwuchsen. Freiheit ist ein Wort, das in den Raum geworfen wird und für die Menschen in Gaza keine Bedeutung hat. Mit Ausnahme des Himmels: Auch deshalb ist Drachensteigen so beliebt, vor allem bei Kindern.

 

Ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Land, das ich nur aus dem Kleinkindalter kannte

 

Den zweiten Teil meiner Kindheit habe ich am Golf verbracht. Ich erinnere mich lebhaft an die Geschichten, die in meiner Familie erzählt wurden: über das Leben in Gaza, über Vertreibung und Verlust. Kurz: über die Grundlagen unserer Identität, die sich über mehrere Generationen erstrecken.

 

Diese Erzählungen haben meine Kindheit geprägt und mir ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Land gegeben, das ich nur aus meiner Kindheit kenne, mit dem ich mich aber immer verbunden gefühlt habe. Die Wirkung dieser Erzählungen geht über die persönliche Identität hinaus; sie beeinflussen die kollektive Psyche unserer Gemeinschaft und fördern eine Widerstandsfähigkeit, die uns Palästinenser über Kontinente und Generationen hinweg verbindet.

 

Was uns trennt, ist die politische Gegenwart der Teilung der palästinensischen Gebiete. Die soziale Dynamik im Westjordanland und in Gaza führte schon vor dem Krieg zu Spannungen, ganz zu schweigen von der politischen Konkurrenz zwischen Hamas und Fatah. In der Diaspora wird dieser Teil unserer Identität romantisiert, was für uns eine andere Realität schafft als die vor Ort.

 

Palästinenser zu sein bedeutet, mit einer imaginären Identität aufzuwachsen, die auf einer jahrhundertealten Kultur, einem Erbe und einem Volk basiert. Das Recht, Palästinenser zu sein, ist mit dem Recht verbunden, einen Pass zu besitzen. Ein weiteres Dilemma, mit dem viele Palästinenser zu kämpfen haben: Je mehr Menschen den Gazastreifen verlassen, desto brisanter werden die Folgen der erneut erzwungenen Migration. Dies betrifft Palästinenser und Nichtpalästinenser, Individuen und Staaten gleichermaßen.

 

Als Teil der Diaspora versucht man, sich in die internationale palästinensische Gemeinschaft zu integrieren und gleichzeitig die Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten

 

Staaten wie Katar haben zwar große Anstrengungen unternommen, um verletzte Palästinenser in Sicherheit zu bringen. Doch die große Mehrheit hat nicht so viel Glück. Der Grenzübergang Rafah bleibt für die meisten geschlossen. Jede Aktion Israels an der Grenze im Süden des Gazastreifens würde jedoch die ägyptisch-israelischen Beziehungen belasten und die roten Linien in den bilateralen Beziehungen aufzeigen.

 

So wie die Palästinenser in Ägypten keinen Einfluss auf die Situation an der Grenze haben, haben die Palästinenser in der Diaspora generell keinen Einfluss auf die palästinensische Politik. Diese Machtlosigkeit macht ohnmächtig. Dennoch nähren die Geschichten meiner Familie über die Widerstandskraft meines Volkes meine Hoffnung auf eine Zukunft, in der unsere Stimmen gehört und unsere Rechte durchgesetzt werden.

 

Als Teil der Diaspora versucht man, sich in die internationale palästinensische Gemeinschaft zu integrieren und gleichzeitig die Verbindung zur Heimat aufrechtzuerhalten. Es ist jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, was beide verbindet: Jahrzehnte andauernder Kolonisierung, Besatzung und Apartheid, die der Grund dafür sind, dass wir getrennt sind.

 

Aktivismus und Lobbyarbeit gehören zu den wichtigsten Instrumenten des Widerstands, sind aber nicht überall eine Option. In den Golfmonarchien zum Beispiel ist die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Das macht es der Diaspora dort manchmal schwer, ihre Stimme zu erheben. Auch wenn der Gaza-Krieg die Normalisierungsbemühungen der arabischen Welt mit Israel auf eine harte Probe stellt, gehen viele Palästinenser davon aus, dass er weitergeht. Daraus entsteht eine Hilflosigkeit, die ich auch in meinem Umfeld spüre. Wenn wir über die Zukunft sprechen, geht es oft um den Verlust und nicht um das, was noch gewonnen werden kann.

 

Selbst wenn die Besatzung beendet würde, blieben wichtige Fragen offen. Sollte die Hamas als politischer Vertreter des Gazastreifens abgesetzt werden, würde Katar an Einfluss verlieren und andere arabische Staaten würden die Gelegenheit nutzen, das Machtvakuum auszufüllen. Die Sensibilität des Themas ist angesichts der vielen Opfer des Krieges nach wie vor hoch. Irgendwann müssen aber auch die schwierigen Zukunftsfragen auf die Tagesordnung.

 

Als Palästinenser aus Gaza, der am Golf lebt, verfolge ich die Vorschläge zur Lösung des Konflikts mit einer Mischung aus Skepsis und Hoffnung. Mein persönlicher Werdegang ist geprägt von Erzählungen über Resilienz im Angesicht von Widerständen. Das bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass innovative und mutige Ansätze entscheidend sind, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen, der die Region seit langem plagt.


Mohammed Usrof wurde in Gaza geboren und lebt heute in Doha. Er gehört zum Gründungsteam der »Climate Alliance for Palestine« (CAP), die sich nach der Weltklimakonferenz COP28 in Dubai konstituierte, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Plattform »Slow Factory« und arbeitet mit verschiedenen Organisationen zusammen, um die Evakuierten aus dem Gazastreifen zu unterstützen.

Von: 
Mohammed Usrof

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