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Militärputsch in Ägypten

Und alle so yeah

Kommentar

Für die einen ein Staatsstreich mit Ansage – für die anderen die wahrscheinlich längste Revolution der Welt. Zwei Tage nach der Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mursi ist die Deutungsschlacht über das Geschehene voll im Gange.

Da war er wieder – der Oberste Militärrat, bekannt unter dem Akronym SCAF, der Ägypten eineinhalb Jahre lang regiert hatte, bis zu den Wahlen im Juni 2012. Seither hatte man wenig von ihm gehört, die Generäle hatten sich aus dem öffentlichen Diskurs zurückgezogen. Kein Wunder, war die Unzufriedenheit mit dem militärisch überwachten Übergangsprozess bis zum Sommer 2012 doch ins Unermessliche gestiegen.

 

Die Verschleppungstaktik des Gremiums unter Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi und sein Vorgehen gegen Aktivisten sorgten für zunehmenden Verdruss und Misstrauen, »Haut ab«-Rufe wurden laut. Und nun: Was für ein Unterschied. Die Verkündung der Absetzung von Staatschef Muhammad Mursi durch den Verteidigungsminister und SCAF-Vorsitzenden Abdel-Fattah Al-Sisi, professionell inszeniert wie eine Pressekonferenz von Barack Obama, sorgte für Begeisterungsstürme.

 

Ein Hubschrauber tauchte am Himmel auf, und die Menschen jubelten. Das Militär und das Volk – sie sind wieder »eine Hand«, wie es auf den riesengroßen Propagandaplakaten heißt, die seit 2011 im Land hängen und die einen Soldaten zeigen, der ein Baby im Arm hält. Die Massendemonstration am 30. Juni und das darauf folgende Ultimatum und Einschreiten der Armee waren ein großer Moment der Euphorie.

 

Dementsprechend säuerlich reagieren viele Ägypter, wenn Kommentatoren – insbesondere ausländische – meinen, ihnen diesen Erfolg mies machen zu müssen. Die Debatte schwelt insbesondere in den (sozialen) Medien. »Es ist kein Militärputsch«, haben manche Ägypter trotzig ihre Facebook-Seite groß überschrieben. Andere greifen direkt die westlichen Medien an, die vermeintlich wie immer ein falsches Bild von Ägypten zeichnen würden.

 

Humoristischer sieht es die Satireseite Pan-Arabia Enquirer, die schrieb: »Unruhig wartet Ägypten auf das Urteil westlicher Twitter-Nutzer, ob es ein Putsch war oder nicht«. Tatsächlich fielen die Einschätzungen vieler westlicher Kommentatoren zurückhaltend aus. Ist die Erinnerung an die unselige Militärherrschaft im Land selbst schneller verblasst als anderswo? Und: War es nun ein Putsch oder nicht? Dazu ist zuallererst zu sagen, dass ein Putsch – also die Machtübernahme durch das Militär – dem Willen des Volkes nicht widersprechen muss.

 

In den meisten Fällen dürfte es sogar umgekehrt gewesen sein: Staatsstreiche werden zumindest der Rhetorik nach »im Namen des Volkes« durchgeführt, um die Nation oder die Demokratie zu schützen. Und auch wenn man den im Umlauf gebrachten Zahlen über die Anzahl der Unterschriften gegen Mursi oder die Zahl der Demonstranten am 30. Juni getrost misstrauen darf: Unzweifelhaft sahen viele Ägypter letztere Errungenschaften in Gefahr: Seit dem vergangenen November hat sich ein Klima der Gewalt über das Land gelegt, das für die Zukunft Schlimmstes befürchten ließ.

 

Und unzweifelhaft sahen sie in Mursi und der von ihm verantworteten Politik den Hauptverantwortlichen dafür. »Dies war vor allem ein Aufstand gegen schlechte Regierungsführung«, so formulierte es der Nahost-Experte Christian-Peter Hanelt bei einer Veranstaltung der DGAP und der Bertelsmann-Stiftung am Freitagmorgen.

 

Mursis Sturz hat ihn zu einem politischen Märtyrer gemacht

 

Der Freudentaumel der Demonstranten und der »Tamarrod«-Bewegung über ihren »Sieg« über Mursi darf aber über zwei Dinge nicht hinweg täuschen: Erstens: Die Absetzung des Präsidenten mag vieles gewesen sein – ein Sieg für die Demokratie war sie nicht. Ägypten – und der gesamte Nahe Osten – haben damit die Chance vergeben, zum ersten Mal in der Geschichte eine islamistische Bewegung friedlich, sprich: durch die Wahlurne, abzulösen.

 

Allem Unmut im Volk und allen Kooperationsangeboten an die Muslimbrüder zum Trotz: Sein Sturz hat Mursi zu einem politischen Märtyrer gemacht. Wenn es gut läuft, wird die Muslimbruderschaft aus der Erfahrung lernen, sich weiterentwickeln und eine neue Generation von Politikern hervorbringen, die ihr Geschäft auch verstehen – anders als diejenigen, die es dieses Mal in den Sand gesetzt haben. Ebenso wahrscheinlich ist es jedoch, dass sich in Teilen der Bewegung Ressentiments gegen das politische System aufbauen werden.

 

Und zweitens: Ohne das Eingreifen der Generäle wäre der Sieg über Mursi nicht zustande gekommen. Wie auch die ursprüngliche »Revolution« im Januar und Februar 2011 nur aufgrund der Unterstützung der Muslimbrüder und des Militärs ihr Ziel erreicht hat, Hosni Mubarak aus dem Amt zu jagen. Das Beharren auf der Interpretation, »WIR haben es erreicht, WIR haben Mursi gestürzt«, der man dieser Tage immer wieder begegnet, maskiert eigentlich vor allem eines: eine große Machtlosigkeit des Volkes.

 

Der Freudentaumel maskiert vor allem die Machtlosigkeit des Volkes

 

Das ägyptische Militär kann zwar nicht selbstherrlich regieren – das will es nach der Erfahrung von 2011 und 2012 auch gar nicht mehr. Aber es ist immer noch der Königsmacher im politischen System des Landes, und es entscheidet, ob und wann es dem Volkszorn gegen eine Gruppierung zum Erfolg verhilft. Tatsächlich besteht durchaus Anlass zu der Vermutung, dass die grundsätzliche Entwicklung der vergangenen zwölf Monate ganz im Sinne der Generäle verlaufen ist – wenn sie nicht sogar von ihnen geplant wurde.

 

Während der Herrschaft des SCAF bekam jede Gruppierung, die an der Revolution beteiligt gewesen war, einzeln die Rache des Sicherheitsapparats zu spüren: die Kopten beim Maspero-Massaker im Oktober 2011 – die Aktivisten bei den Auseinandersetzungen in der Mohammed-Mahmoud-Straße im November 2011 – die Fußball-Ultras beim Port-Said-Massaker im Februar 2012. Die Muslimbruderschaft freilich war zu groß für eine solche Art der Revanche, außerdem hatte das Militär ein Stillhalteabkommen mit ihnen geschlossen.

 

Dass die Ikhwan – was ihr größter Fehler war – nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen auch nach der Präsidentschaft griffen, kam dem Militärrat freilich durchaus gelegen: Soll sich doch ein Bruder daran versuchen, das postrevolutionäre Chaos in den Griff zu bekommen, solange die Pfründe der Offiziere unangetastet bleiben. So oder so – die Armee konnte nur dabei gewinnen. Mursi wäre dann nicht mehr als ein nützlicher Idiot gewesen.

 

Zur wahren tragischen Figur in dem ägyptischen Drama könnte aber noch ein anderer werden: Mohamed El Baradei. Der Diplomat und Friedensnobelpreisträger war einst in seine Heimat zurückgekehrt, um eine liberale, progressive Alternative zu Mubarak zu bieten. Im Land verfügte er jedoch nie über eine Massenbasis, selbst nach der Revolution hielt sich seine Popularität in Grenzen. Seit dem Herbst 2012 agitierte El Baradei verstärkt gegen Mursi, Dialogangebote lehnte er am Ende ebenso ab wie der linke Fahnenträger Hamdeen Sabbahi.

 

Nicht zufällig wurden beide beim Militärputsch konsultiert. El Baradei ist nun als Übergangspremier im Gespräch – auch wenn er selbst alle Ambitionen von sich weist, ist das alles andere als ausgeschlossen. Es wäre eine traurige Ironie der Geschichte, wenn dieser Kämpfer für ein besseres Ägypten am Ende in einem machtlosen Staatsamt landen würde, an den Strippen eines Generals. Es sei denn natürlich, Mubarak kommt gleich selbst zurück.

Von: 
Christian Meier

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