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Nach der Stichwahl in Afghanistan

Entscheidung in ungewissen Zeiten

Feature

Ghani oder Abdullah? Beide Kandidaten geben sich nach den Stichwahlen siegesgewiss – und wollen den Wahlausgang in jedem Fall anerkennen. Afghanistans Wähler hoffen auf eine rasche Bekanntgabe des Ergebnisses.

Einen Tag nach der Stichwahl um die Karzai-Nachfolge zeichnet sich ein widersprüchliches Bild ab. Wer von beiden Kandidaten vorne liegt, ist zur Stunde unklar. Sicher ist nur, dass die wenigen Stichproben, die afghanische Medien nach Schließung der Wahllokale gesammelt und öffentlich gemacht haben, nicht wirklich belastbar sind. Ebenso wenig die Hunderte von Einzeleindrücken und -kommentaren aus Städten und Provinzen, die in der Menge ein Bild ergeben, das noch nicht wie Puzzle-Teile zusammenpasst.

 

Eine der Stichproben, die sich auf kaum mehr als 160 der mehr als 6.000 Wahllokale beruft, sieht Ex-Finanzminister Ashraf Ghani vorne, einen Paschtunen wie Karzai, der lange die USA als Lebensmittelpunkt hatte und zuletzt für die Karzai-Regierung mit dem Westen Details des Übergangs nach dem Abzug der ISAF ausgehandelt hat. Andere sind zuversichtlich, dass Abdullah Abdullah das Rennen macht, angesichts seines Vorsprungs aus dem ersten Wahlgang. Da hatte Abdullah mit 45 Prozent klar vor Ghani mit 31,5 Prozent gelegen.

 

Abdullah nimmt bereits den zweiten Anlauf auf die Präsidentschaft nach 2009. Der Tadschike wäre der erste frei gewählte Nicht-Paschtune im Amt und würde damit an einer fast 270 Jahre alten Dominanz rütteln. Ein Szenario, das im Wahlkampf zunehmend ethnische Eiferer und Fanatiker auf den Plan gerufen hat und das afghanische wie internationale Beobachter fürchten. Denn sollte einer der beiden Kandidaten das Ergebnis der Stichwahl nicht anerkennen, droht dem Land neue Instabilität.

 

Noch ist dies weithin ein Negativ-Szenario, das nicht ganz zufällig aufkommt dieser Tage angesichts der neuen politisch-militärischen Zuspitzung im Irak. Was kann als gesichert gelten? Erneut scheint es eine hohe Wahlbeteiligung gegeben zu haben, verteilt über das ganze Land. Erneut aber auch zahlreiche Opfer und verletzte Zivilisten aufgrund von Taliban-Angriffen, die ihre Drohungen wahr gemacht haben, die Wahl entscheidender als nach dem ersten Durchgang zu sabotieren. Eine Reaktion offenbar auf den Boykott vieler afghanischer Medien, der Propaganda der Aufständischen einen Riegel vorzuschieben nach einer Serie von Anschlägen auf afghanische wie internationale Journalisten in den letzten Monaten.

 

Auch diesmal: lange Wahlschlangen und fehlende Stimmzettel, wie schon im April. Anderswo: fehlender Andrang, Leere an den Urnen. Der Widerspruch lässt sich erklären: In Afghanistan dürfen die Wähler überall im Land wählen, ohne Ortsbindung. Und unzufriedene Wähler aufgrund fehlender Stimmzettel etwa gab es im ersten Wahlgang viele. Nach Protesten der Präsidentschaftskandidaten standen diesmal deutlich mehr Wahllokale zur Auswahl.

 

Der Enthusiasmus der Wähler scheint bei dieser Stichwahl dabei etwas gebremster. »Einige Wähler sind zuhause geblieben, weil Erntezeit ist und der bevorstehende Ramadan seine Schatten vorauswirft«, so ein afghanischer Entwicklungshelfer aus Herat. Er selbst habe sein Kreuz diesmal woanders gemacht als im ersten Wahlgang. Nach Abdullah Abdullah nun Ashraf Ghani, wobei er selbst weder der einen noch der anderen Ethnie angehört. »Ich bin letztendlich für den Kandidaten, von dem ich mir am meisten finanzielle Zusagen und Zuspruch der internationalen Staatengemeinschaft erwarte«, meint er.

 

Die offizielle Wahlkommission kämpft, trotz vielerlei datentechnischer Verbesserungen bei dieser Wahl, unverändert mit einem Hauptübel: Es gibt kein zentrales Wahlregister. Nicht einmal der Wahlleiter weiß zweifelsfrei, wie viele Wähler, Stimmzettel und Urnen im Umlauf sind. An Margen der Fehlerhaftigkeit haben sich auch die internationalen Akteure gewöhnt. Es gilt vor allem die groben Verstöße zu ahnen.   

 

Ghani wie Abdullah gelten als aufgeklärt gegenüber den internationalen Geberländern, wobei Abdullah einem möglichen Verhandlungsfrieden mit den Taliban ohne Zweifel skeptischer gegenübersteht als Ghani. Beide haben ebenfalls erklärt, das Sicherheitsabkommen mit den USA alsbald unterzeichnen zu wollen. Wichtiger noch: beide haben mehrfach versichert, eine Niederlage zu akzeptieren und nicht auf politische Proteste zu setzen. Für den 22. Juni ist das inoffizielle Zwischenergebnis angekündigt, das amtliche Endergebnis für den 2. Juli. Eine zeitliche Verzögerung wäre das Vorzeichen für neue Spannungen.

 

Dass bei dieser Stichwahl in mehr als einer Handvoll von Fällen Betrug stattgefunden hat, ist ebenfalls keine Überraschung. Noch ist nicht einzuschätzen, welche dieser Vorfälle System haben und was in der Masse an Verstößen relevant ist, an welchen Stellen die eine oder die andere Seite entscheidend benachteiligt worden ist. Nach den letzten Eindrücken gehen Beobachter von einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Dies hieße, dass der zweitplatzierte Ashraf Ghani immerhin einen 12,5 Prozent-Punkte Rückstand wettgemacht haben könnte.

 

Ein erstaunliches Szenario, zumal sich mehrere Kandidaten, die nach der ersten Runde ausgeschieden waren, zuletzt auf die Seite Abdullahs geschlagen hatten. Unklar ist, inwiefern die Wähler ihnen dabei gefolgt sind. Wählerwanderungen sind etwas Neues in der politischen Arithmetik Afghanistans. Auch die Aussicht, dass das Land an der Spitze ethnisch »kippen« könnte, mag den Einen oder Anderen zum Umdenken in letzter Minute veranlasst haben.

Von: 
Martin Gerner

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