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Petition gegen Präsident Mursi

Die Rebellen sind los

Feature

Ägyptens Opposition verharrt weiter im Übergang und kann den Unmut der Bevölkerung kaum bündeln. Ende Juni entscheidet das Verfassungsgericht, ob eine Petition mit bisher 5 Millionen Unterschriften Präsident Mursi des Amtes entheben kann.

Es ist still geworden um die Gegner von Präsident Mursi, doch richtig zur Ruhe kommt Ägypten mit seinen politischen Grabenkämpfen nicht. Irgendwie scheinen alle Formen der Opposition verbraucht: von friedlichen, kreativen, bunten, gewalttätigen Demonstrationen über Wahlen oder den Boykott von Wahlen bis hin zur Arbeit im Parlament hat man alles versucht. Doch während die Opposition um Einigkeit ringt und sich sammelt, verschiebt Präsident Mursi wieder einmal die Parlamentswahlen und tauscht noch mehr Mitarbeiter in Bürokratie, staatlichen Medien oder Gewerkschaften durch seine Getreuen aus.

 

Doch die Oppositionellen verharren nicht in blindem Zorn oder wütender Verzweiflung – eine neue Kampagne soll noch mal ganz unten anfangen mit dem Protest, doch nicht laut und auf der Straße, sondern demokratisch und formal korrekt möchte man sein. Die Organisatoren von »Tamarrod – Rebell« sammeln Unterschriften gegen Präsident Mursi. Auf diesem Wege wollen sie ihm das Vertrauen entziehen und vorgezogene Neuwahlen erreichen. Bis zum 30. Juni 2013, genau ein Jahr nach der Amtseinführung Mursis, können ägyptische Bürger noch ihre Unterschrift abgeben, dann sollen sie einem Richter übergeben werden, der dann beurteilt, ob der Präsident noch den Grundsatz der Souveränität des Volkes erfüllt.

 

Im Unterschied zu anderen Kampagnen der Opposition kommt die Petition ohne die bekannten Gesichter der »Nationalen Rettungsfront« oder anderer Parteien aus. Der Kioskverkäufer nebenan, der Taxifahrer, der Kellner im Café, die Tante und die Nachbarin machen mit. Nach Monaten des ermüdenden Protests scheint diese Aktion, bei der jeder mit seiner Unterschrift einen einfachen, aber entscheidenden Beitrag leisten kann, genau ins Schwarze zu treffen.

 

»Ich hätte nicht damit gerechnet, aber jeder will unterschreiben. Ich treffe so viele Leute, die mich fragen, ob ich nicht auch unterschreiben könne, er oder sie hätten Formulare da. Jeder macht mit – und das landesweit«, erzählt Ahmed, ein Aktivist, der gerade Unterschriften in Luxor gesammelt hat, wo er ähnlichen Enthusiasmus wie in zuvor in Kairo feststellte. Stolz erzählt er von den mittlerweile über 5 Millionen Signaturen. Die Organisatoren hoffen auf 15 Millionen Gegenstimmen für Mursi – mehr als ihn 2012 gewählt haben.

 

Die Muslimbrüder sehen die Kampagne »eher als Umfrage«

 

Doch ob sich aus der Verfassung wirklich ableiten lässt, dass dem Präsidenten durch ein Volksbegehren das Vertrauen entzogen werden kann, ist fraglich. Ab dem 30. Juni liegt diese Entscheidung beim Obersten Verfassungsgericht, das in den letzten zwei Jahren durchaus öfter für politische Überraschungsurteile gesorgt hat.

 

Mursis politische Verbündete hingegen teilen den Enthusiasmus der »Rebellen« nicht. Es sei völlig unlogisch, so, Mohamed El-Baltagy, einer der führenden Muslimbrüder, dass man dem Präsidenten auf diese Weise das Vertrauen entziehen würde. Es ginge hier um die Grundregeln der Demokratie, schließlich sei Mursi ein von 12 Millionen Bürgern gewählter Präsident. Die Kampagne sei vielleicht eher als Umfrage zu sehen. Er forderte die Organisatoren auf, im politischen Spiel mitzumachen, eine Partei zu gründen und sich den Parlamentswahlen zu stellen. 

 

Doch genau davon scheinen viele Ägypter genug zu haben. Obwohl Mursi Zustimmungswerte extrem fallen, laut einer aktuellen Umfrage des »Ägyptischen Centers für öffentliche Meinungsforschung« unterstützen nur noch 46 Prozent den Präsidenten gegenüber 78 Prozent nach seinen ersten 100 Tagen im Amt, kann die Opposition nicht davon profitieren. Die große Zersplitterung verwirrt viele Wähler, einmal gegründete Parteien tun sich schwer damit, ihr Programm weiterzuentwickeln. Ein prominentes Beispiel ist die »Verfassungspartei« (Al Dostour) des bekannten Politikers Mohamed El Baradei: anfangs aus Opposition gegen die von den Islamisten durchgedrückte Verfassung gegründet, hat sie nun ein halbes Jahr nach deren Verabschiedung noch immer keine klaren inhaltlichen Leitlinien.

 

Die Opposition lässt innerparteiliche Demokratie und Programmentwicklung vermissen

 

Die meisten Parteien befinden sich auch zwei Jahre nach der Revolution immer noch im Übergangsstadium mit Übergangsvorsitzenden, die nicht demokratisch gewählt sind. Innerparteiliche Demokratie, Programmentwicklung, Positionierungen, die über Bekenntnisse eines berühmten Parteivorsitzenden hinausgehen – all das kam in den letzten zwei Jahren Wahlmarathon und sich überschlagenden Ereignissen zu kurz. So landet der Zusammenschluss der meisten Oppositionsparteien, die »Nationale Rettungsfront«, auch mit 45 Prozent Zustimmung auch deutlich hinter der Muslimbruderschaft mit 52 Prozent.

 

Dabei ist der Frust über die Muslimbrüder deutlich spürbar. Viele Ägypter machen die Partei für die sich stetig verschlechternde Situation in Ägypten verantwortlich: tägliche Stromausfälle, die nun zwei Jahre andauernde Benzinknappheit, noch immer keine Sicherheit auf den Straßen, dazu die gravierende Wirtschaftskrise. Abzuwarten bleibt, wie sich die Oppositionsparteien im Wahlkampf zu den bald anstehenden Präsidentschaftswahlen positionieren werden.

Von: 
Victoria Tiemeier

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