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Polit-Comeback der Armee in Ägypten

Ägypten zwischen zweiter Revolution und Militärputsch

Analyse

Der ägyptische Krimi geht in die nächste Runde. Die Basis der Proteste gegen die Muslimbrüder ist viel breiter als während der Revolution 2011 – und ein Grund für den Jubel über das fragwürdige Polit-Comeback der Armee.

Gerade noch schaute die Welt mit wiederentdecktem Interesse auf die »Tamarrod«-Rebellen und ihre Unterschriftenaktion, da nimmt die Armee das Heft des Handelns in die Hand. Verteidigungsminister Abdul-Fatah Al-Sisi ließ am 1. Juli im Staatsfernsehen verlesen, dass die Militärführung den politischen Akteuren, allen voran Präsident Mursi, noch 48 Stunden Zeit gebe, den politischen Konflikt beizulegen. Andernfalls werde die Armeeführung einen Fahrplan für eine Übergangsphase darlegen.

 

Heißt das nun übersetzt, dass Ägypten kurz vor einem Militärputsch steht? Die Armee preist in ihrer Erklärung die Demonstrationen und die Demokratie, sie sieht sich in der Verantwortung, eine Eskalation zu verhindern. Ein Bürgerkrieg aufgrund eines Präsidenten, der nicht gehen will und bereit ist, sein Land in Gewalt und Chaos versinken zu lassen, wird es also dank der patriotischen ägyptischen Armee nicht geben. Da die Frage drängt sich auf: Warum sieht sich die Militärführung nun nach relativ friedlichen Demonstrationen zum Eingreifen verpflichtet?

 

Hatte sie sich nicht vor einem Jahr selbst massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht und mit allen Mitteln eine echte Demokratisierung zu verhindern versucht? Man erinnere sich an den Oktober 2011, als vor dem Maspero-Gebäude in Kairo Panzer der Armee eine mehrheitlich christliche Demonstration überrollten, oder an die von Polizei und Militärrat provozierten Ausschreitungen im Fußballstadion in Port Said, ganz zu schweigen von den monatlichen Straßenschlachten von Armee und Demonstranten in Kairo. Allein Maspero und Port Said forderten zusammen über 100 Todesopfer.

 

Die »Sofapartei« entdeckt die Straße

 

Und nun sorgt sich diese Armeeführung um die Demokratie in Ägypten – und greift dabei selbst zu recht undemokratischen Mitteln. Oberbefehlshaber der Armee ist laut Verfassung der Präsident. Dass der Verteidigungsminister seinem Oberbefehlshaber ein Ultimatum setzt, ist somit alles andere als verfassungskonform. Doch die Menschen jubeln. 33 Millionen Menschen sollen am Sonntag auf Ägyptens Straßen gewesen sein, viele Städte glichen einem einzigen großen Demonstrationszug.

 

Die Zahlen übertreffen locker die der Demonstrationen kurz vor dem Rücktritt Hosni Mubaraks im Februar 2011. Fast noch erstaunlicher ist, dass die Aktivisten von »Tamarrod« – laut eigenen Angaben – 22 Millionen Unterschriften gegen Mursi gesammelt haben – und das in einem Land mit einer Analphabetenrate von über 40 Prozent. Klar ist: Präsident Mursi hat viel an Rückendeckung verloren.

 

Das Ausmaß der Proteste zeigt anschaulich, dass die Menschen sauer, enttäuscht und frustriert sind. Selbst die schweigende Mehrheit, gemeinhin als »Sofapartei« bekannt, die die Revolution nur auf der Couch vor dem Fernseher verfolgt, trieb es angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage und Versorgungsengpässen bei Strom und Benzin auf die Straßen. Die Menschen fordern von Mursi Ergebnisse, die der Präsident nicht liefert.

 

Ambivalentes Meinungsbild unter den Aktivisten

 

Die Erinnerung an die Zeit der Herrschaft des Obersten Militärrates (SCAF) erlebt dabei eine verklärte Renaissance: Viele der jetzigen Demonstranten erlebten die Menschenrechtsverletzungen ja auch nicht als Realität oder alltägliche Bedrohung, sondern als Streiflicht im Meer der täglichen, schlechten Nachrichten. Die Armee erscheint nun wie der dringend ersehnte Anker – als einzige vertrauenswürdige Institution, die Stabilität verspricht. Fragt man Aktivisten, ergibt sich ein ambivalentes Bild.

 

Die Erinnerung an die SCAF-Regierung unter Feldmarschall Tantawi ist noch frisch. Die Menschenrechtsverletzungen des Militärrats, die politischen Manöver, das Arrangement mit den Muslimbrüdern – viele der Revolutionäre hatten gehofft, dass den Ägyptern die Lust auf Militärführer als Präsidenten nun endlich vergangen sei. »Nein«, entgegnet Amr, ein Aktivist von »Tamarrod«, »die Armee hat ihre Lektion gelernt. Sie kann das Land nicht direkt beherrschen.

 

Um ihre Interessen durchzusetzen, muss sie sich ruhig im Hintergrund halten. Ich glaube der Armeeführung, dass sie keine politische Rolle spielen will.« Das Militär habe erkannt, dass es mit Mursi keinen verlässlichen Partner mehr hat und sich so auf die Seite der Demonstranten gestellt. Das Ultimatum helfe also vor allem der Opposition, die ja die erwähnte Roadmap schon ausgearbeitet hat und nun mit Mohamed El Baradei auch einen würdigen Vertreter an ihre Spitze gewählt hat.

 

Zu den zentralen Forderungen gehören Mursis Rücktritt, die Bildung einer Übergangsregierung aus Technokraten und vorgezogene Neuwahlen. Viele, doch nicht alle Aktivisten sind so optimistisch wie Amr. Sie misstrauen der Militärführung und fürchten, dass sich die Geschichte doch wiederholt: Militärputsch gefolgt von Militärherrschaft – und schon stehen die Revolutionäre einem neuen Militärrat (SCAF) gegenüber. »Ein Militärputsch, der zur Demokratie führt? Daran glaube ich nicht.

 

Es wäre besser gewesen, Tamarrod hätte Mursi zum Rücktritt bewegt«, meint Mohamed, der Mitglied der sozialistischen Partei ist. Er und viele seiner Mitstreiter befürchten, dass so lediglich der Machtpoker zwischen Islamisten und Armee weitergeht – und die Revolutionäre, besonders die Jugend, noch mehr an den Rand gedrängt werden.

 

Die Drohung mit Putsch offenbart die Selbstwahrnehmung der Armee

 

Feststeht, dass das Ultimatum Mursi und die Muslimbrüder in die Ecke gedrängt hat. Das islamistische Lager bröckelt, die salafistische Nour-Partei stellt sich gegen den Präsidenten und schließt sich den Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen an. Mursi kann die Proteste nicht mehr aussitzen, auch der Rückgriff auf die Sicherheitskräfte ist nun keine Option mehr. Der Countdown für den Präsidenten läuft bereits. Das Versprechen der Militärführung, nicht in die Politik einzugreifen, während sie dem Präsidenten mit einem Putsch drohen, ist in sich ein Widerspruch.

 

Die Armee hat schon einmal versucht, das Land durch eine Übergangsphase zu führen. Sie hat sich dabei parteiisch, undemokratisch, taktierend und gewaltbereit gezeigt. Hat sie ihre Lektion gelernt? Die Drohung mit Putsch offenbart die Selbstwahrnehmung einer Armee, die offensichtlich noch nicht in der Demokratie angekommen ist: Die Armee als Verfechterin der Interessen des Volkes, als ausgleichende Gewalt, die über den gewählten Institutionen und Personen steht, die überwacht, beobachtet und im Zweifel eingreift.

 

Wer garantiert, dass eine Armee mit diesem Selbstverständnis nicht auch weiterhin selektiv in die Politik eingreift, wenn ihr die Kandidaten einer Wahl nicht passen, wenn ihr die Politik nicht passt, wenn sie glaubt, mit einem anderen Präsidenten besser zu fahren. Eine Demokratie unter strenger Aufsicht des Militärs – das wäre wirklich ein großer Schritt zurück. Es bleibt zu hoffen, dass er nicht gegangen werden muss.

Von: 
Victoria Tiemeier

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