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Stichwahl in Afghanistan

Kerry erreicht Neuauszählung

Analyse

In Afghanistan werden die Stimmen der Stichwahl neu ausgezählt. Damit könnte der drohende Zerfall des Landes abgewendet werden.

Alle Stimmen der Präsidentschaftswahl werden neu ausgezählt. Und: es wird eine neue Regierung in Afghanistan geben, die Sieger und Verlierer in einem Pakt der nationalen Einheit, wie es in Übersetzungen der Nachrichtenagenturen heißt, versucht zusammenzuschweißen. Das hat US-Außenminister John Kerry nach zwei Tagen Krisendiplomatie in Kabul erreicht, und das ist nicht wenig. Denn es bewahrt das Land vermutlich vor einem drohenden Auseinanderbrechen und einem Szenario wie im Irak, wo die US-Krisendiplomatie zuletzt deutlich weniger erfolgreich war bei dem Versuch, den noch-Staatschef des Irak, Maliki, davon zu überzeugen, die Macht mit anderen Glaubensrichtungen und Konkurrenten zu teilen.

 

In Kabul liegen die Dinge allerdings anders. Die Drohung Kerrys, die militärische wie zivile Hilfe abzuziehen, ist real. Ohne die US-amerikanische Geldzufuhr würde nicht nur der afghanische Staat und seine frisch und aufwendig aufgerüsteten Sicherheitskräfte zerfallen, sondern auch erhebliche Teile der jungen afghanischen Zivilgesellschaft – und damit die Anstrengungen der letzten dreizehn Jahre. 

 

48-Stunden Pendeldiplomatie in der Kabuler US-Botschaft

 

Insofern verwundert es nicht, dass neben den beiden Kontrahenten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah am Ende auch Hamid Karzai, der scheidende Präsident, dem Kompromiss seinen Segen gegeben hat. Gerade Karzai spielt die Einigung in die Karten. Mit der Vereinbarung erscheint er im In- und Ausland als Mann über den Parteien, der das demokratische Wohl des Landes im Auge hat. Das ist in gewisser Hinsicht eine Täuschung, hat Karzai doch in den vergangenen Jahren eins ums andere Mal die ethnische Karte bedient. Und auch diesmal steht er, glaubt man den Mutmaßungen, im Mittelpunkt der Vorwürfe um die zweite große Wahlfälschung in Folge.
 
Dass alle acht Millionen Stimmen jetzt binnen eines Monats neu ausgezählt werden sollen, ist ein deutliches Zeichen des nationalen wie internationalen Misstrauens gegenüber den staatlichen Wahl- und Wahlbeschwerde-Kommissionen in Kabul, denen immer wieder Abhängigkeit von Karzais Palast nachgesagt wird. Spät, aber vielleicht nicht zu spät, bietet sich jetzt die Chance, dass diese Institutionen mithilfe von Vereinten Nationen und internationalen Beobachtern an Statur gewinnen und tatsächlich ein Stück mehr Unabhängigkeit bekommen.
 
Beide Urnengänge, der erste im April und die Stichwahl im Juni, haben unmissverständlich den Wunsch der Afghanen nach einem erstmals selbstbestimmten demokratischen Neuanfang unterstrichen. Was dagegen in den letzten Tagen drohte, war – einmal mehr – die Instrumentalisierung, ja der Diebstahl dieses Wählerauftrags durch alte politische Seilschaften und gewendete Warlords. Nun, nach aufreibenden Tagen für die afghanische Bevölkerung, mit vielen Menschen, die dabei waren ihre Koffer zu packen um dem drohenden Chaos zu entfliehen, dürfte das Szenario von Kämpfen des Nordens gegen den Süden des Landes erst einmal vom Tisch sein. Und damit auch die Befürchtung vor einem möglichen Zerfall Afghanistans, den einige bereits an die Wand gemalt haben.
 
 

Neuauszählung statt drohender Konfrontation

 

Die komplette Neuauszählung der Stimmen entspricht vor allem dem Wunsch von Herausforderer Abdullah Abdullah, der sich zum zweiten Mal nach 2009 um einen möglichen Wahlsieg betrogen sieht. Zugleich war es Abdullah selbst, der mit der Drohung, das Zwischenergebnis von vergangener Woche nicht anzuerkennen und das Szenario einer unverfassungsmäßigen Gegenregierung erst ins Spiel brachte, begleitet von Ausschreitungen seiner Anhänger.
 
Binnen weniger Tage wurde die Angst der Afghanen vor einem erneuten Bürgerkrieg damit sehr real. Mehr noch: ein Verlierer, der nicht verlieren kann, hätte zudem das Geschäft der Taliban gemacht. Die Taliban waren aufgrund eben solcher innerethnischen Kämpfe vor zwanzig Jahren an die Macht gekommen. Die Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht. Sonst hätten sich die USA, die damals nach dem Abzug der Sowjets das Land allein zurückließen, sich diesmal nicht in der Pflicht gefühlt. Ein Freibrief für Zuversicht ist dies nicht.
 
Mit der heute beginnenden Neuauszählung der Stimmen gerät auch noch einmal die ISAF-Schutztruppe in unverhoffter Weise in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Nato-Kräfte sollen jetzt sämtliche Wahlurnen nach Kabul transportieren, heraus aus den entfernten Landesteilen, wo die einen Afghanen den anderen nicht über den Weg trauen. Ob die neue afghanische Regierung auch nach der noch näher zu erklärenden Einigung von heute und dem Abzug der Nato-Streitkräfte Ende des Jahres tatsächlich zusammenhält, steht in den Sternen.
 
Der Kompromiss, der mit viel Pendeldiplomatie in den Gängen der US-Botschaft in Kabul in den letzten 48 Stunden ausgehandelt wurde, hat erkennen lassen, dass Afghanistans Politiker zur Raison fähig sind, wenn auch erst unter erheblichem Druck. Ob sie auch alleine dazu fähig sind, bleibt die spannende Frage der kommenden Zeit.
Von: 
Martin Gerner

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