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Wahlen und Naturkatastrophen in Afghanistan

Stichwahlen im Zeichen der Naturkatastrophe

Feature

Ein Erdrutsch überschattet den Wahlkampf – und zeigt die Defizite afghanischer Staatlichkeit und Institutionen auf. Die Spitzenkandidaten werben unterdessen um die Gunst der unterlegenen Bewerber für die Stichwahlen am 14. Juni.

Afghanistan bekommt eine Stichwahl. Voraussichtlich am 14. Juni stehen sich die beiden Herausforderer Ashraf Ghani (31,4 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang) und der führende Abdullah Abdullah (44,9 Prozent) gegenüber. Noch ist die heiße Phase für diesen ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes nicht eingeleitet. Die Intensität der politischen Debatte wird zurzeit gemildert durch die Katastrophe um den massiven Erdrutsch im Distrikt Argo in der Hochgebirgs-Provinz Badachschan. Mehrere hundert Menschen hat die Lawine am 2. Mai begraben.

 

Schätzungen gehen in jedem Fall von mehreren Hundert Opfern aus, manche von bis zu 3.000. Nachdem zudem eine Gruppe afghanischer Politiker und Amtsträger am Ort der Katastrophe erkennbar missverständlich für ein Foto posiert hat, eignen sich die Verhältnisse weniger denn je für eine wie auch immer geartete politische Vorteilnahme.

 

Die heftigen Niederschläge, die den Norden des Landes und Kabul in der Woche der Wahlen Anfang April heimgesucht hatten, können dem gleichen Phänomen zugeordnet werden, das den Erdrutsch mitverursacht hat: nämlich überdurchschnittlich starker Frühjahrsregen, der den Boden in vielen Landesteilen entscheidend aufgeweicht hat. Dieser Dauerregen wiederum ist offenbar ein Zeichen veränderter Klimaverläufe der letzten Jahre in Afghanistan – mit dem Risiko, dass mit derlei Naturkatastrophen auch in Zukunft gerechnet werden muss.

 

Dabei bilden einerseits Perioden extremer Dürre und Trockenheit, unter denen das Land in Abständen leidet, und andererseits extreme Frühjahrs-Niederschläge mit zahlreichen Sturzfluten wie in diesem Jahr nur scheinbare Widersprüche. Meteorologen wie Geologen bemerken zudem die voranschreitende Schmelze großer Gletscher im Kontext der Ausläufer von Hindukusch und Himalaya. Die so losgelösten Wassermengen betreffen nicht erst neuerdings die Bergmassive von Badachschan, die häufig aus staubintensivem kalkhaltigen Lößböden bestehen, weniger aus massivem Geröll. Hinzu kommt: Der Norden des Landes liegt entlang tektonischer Falten, die regelmäßig mehr oder minder heftige Erdbeben verursachen, die die Erdmassen verschieben.

 

In den vergangenen Jahren hat es so in Badachschan und benachbarten Nord-Provinzen des Landes eine Reihe massiver Erdrutsche gegeben. Die meisten forderten weniger Opfer und verliefen vergleichsweise glimpflich. Zusammengenommen scheinen sie die Folge einer Klimaerwärmung zu sein, die Afghanistan unter anderem in Form von jährlich steigenden Durchschnittstemperaturen trifft. Hinzu kommt, dass sich die bäuerliche Bergbevölkerung im Zuge ausgeweiteter Anbauflächen im Tal offenbar stärker als in der Vergangenheit auf mutmaßlich bewohnbaren Bergkämmen ansiedelt.

 

Die politische Dimension der jüngsten Katastrophe: Afghanistan bleibt nach wie vor und auf absehbare Zeit ein Land des Mangels und der technologischen Abhängigkeiten. Vorwarnungen durch die Sammlung von »Big Data« und durch ein Krisenmanagement, das entlegene Landstriche in kalkulierbaren Zeitabständen erfasst, erreicht und zugänglich macht, sind teuer und zeitintensiv. Kabul bleibt hier auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Ausländische Experten verweisen darauf, dass die effektive Registrierung geologischer Daten zur Vorwarnung immer noch billiger sei als die jetzt zu beziffernden Kosten und anlaufende Nothilfe. Man darf gespannt sein, ob sich auf diesem Gebiet der Prävention etwas tun wird.

 

Können Ghani und Abdullah die Lehren aus der Naturkatastrophe ziehen?

 

Zugleich scheinen die afghanischen Behörden mit der Koordinierung der Hilfe überfordert. Einmal mehr kommen jetzt Defizite afghanischer Staatlichkeit und ihrer Institutionen zum Vorschein. Auch daraus können die beiden Spitzenkandidaten für die Stichwahl Lehren ziehen.     Zurzeit strecken beide Herausforderer, Abdullah Abdullah wie Ashraf Ghani, ihre Fühler in Richtung der unterlegengen Kandidaten aus, um deren Gefolgschaft es jetzt zu werben gilt.

 

Dabei scheint es Abdullah, der in erster Linie die tadschikische und Hazara-Wählerschaft repräsentiert, zu gelingen, auch die Gunst des ein oder anderen paschtunischen politischen Führers zu gewinnen. So haben sich der drittplatzierte Zalmai Rasoul, der im Vorfeld oft als Hamid Karzais Kandidat tituliert worden war und der fünftplatzierte Gul Agha Sherzai, für Abdullah ausgesprochen. Das macht die Aufholjagd für Ashraf Ghani, den mondän wirkenden paschtunischen Wirtschaftsexperten, nicht leichter.

 

Am Ende könnte es sogar knapp werden. Auch weil zum zweiten Urnengang womöglich mit deutlich weniger Wählern an den Urnen zu rechnen ist. Denn der erste Wahlgang fiel zusammen mit der Abstimmung über die Provinzparlamente. Die Stimmen dieser zeitgleichen Wahlen sind immer noch nicht komplett ausgezählt. Und damit gärt auch der Verdacht über mögliche Manipulationen. Dies wiederum könnte einen Teil der Wähler davon abhalten, sich an der Stichwahl zu beteiligen.

 

Was ist reale Avance, was politische Finte?

 

Daneben bleibt das Risiko, zur Zielscheibe von Aufständischen zu werden, die die Wahl zu sabotieren versuchen. Überhaupt stellt sich die Frage, ob angesichts einer Vielzahl (sicherheits)politischer wie naturräumlicher Risikofaktoren sowie der Kosten für einen zweiten Wahlgang, ein Modell mit Stichwahl für Afghanistans Präsidentenamt in Zukunft noch opportun ist. Verfassung hin oder her: Nicht ausgeschlossen scheint auch die kurzfristige Absage der Stichwahlen zugunsten einer »Regierung der nationalen Einheit«.

 

Beide Kandidaten tun zwar alles, um diesen Eindruck zu zerstreuen. Andererseits legt die Intensität der Sondierungen nahe, die zur Zeit in vielen Hinterzimmern in Kabul laufen, dass diese Eventualität nie vollkommen auszuschließen ist. Inhaltlich halten sich beide Kandidaten bedeckt. Ob in Fragen der möglichen Kabinetts-Besetzung, der Korruptionsbekämpfung, des Sicherheitsabkommens mit den USA oder der Strategie zur Bekämpfung beziehungsweise Befriedung gegenüber den Taliban – keine der Ausführungen von Abdullah Abdullah oder Ashraf Ghani der letzten Tage sind wirklich entscheidend belastbar und lassen erkennen, wohin die Reise in Zukunft geht.

 

Das macht es spannend und schwer zu lesen für politische Auguren. Was ist reale Avance, was politische Finte? Was Taktik und was politischer Trick? Betont wird allenthalben das nationale Interesse anstelle ethnischer Vorteilsnahme. Es wäre in der Tat ein Fortschritt, wenn sich der Sieger danach richten würde. Erkennbar ist auch, dass bei den aktuellen Gesprächen der scheidende Präsident Hamid Karzai nach wie vor eine Reihe von Trümpfen in der Hand hält.

Von: 
Martin Gerner

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