Lesezeit: 3 Minuten
Analyse: Israel

Dienst nach Vorschrift

Analyse
Analyse_Israel
Foto: Avinoam Faltin Israel Free Image Collection Project

Keine Wehrpflichtbefreiung mehr für Ultraorthodoxe – so urteilte Israels Oberster Gerichtshof. Die Umsetzung droht an der Politik zu scheitern.

 

Im September hob Israels Oberster Gerichtshof die Befreiung ultraorthodoxer Juden von der allgemeinen Wehrpflicht auf. Die Praxis verletze den im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgrundsatz, so die Richter. Die bisherige Ausnahmeregelung geht auf Staatsgründer David Ben-­Gurion zurück, der 1949 etwa 400 Talmudstudenten aus religiöser Rücksichtsnahme den Dienst erließ. Aus den 400 sind mehr als 60.000 geworden. Die ultra­orthodoxen Regierungsparteien gingen den Obersten Gerichtshof scharf an. Das Urteil sei »abscheulich« und »vollkommen losgelöst von den jüdischen Traditionen«. Zugleich übten sie Druck auf Premier Benjamin Netanyahu aus, das Urteil auch nach Ablauf der einjährigen Übergangsfrist zu umgehen. Die anschließenden Demonstrationen eskalierten, nachdem zwei Talmudstudenten, die den Dienst an der Waffe trotz mehrfacher Aufforderung verweigert hatten, zu 20 Tagen Militärhaft verurteilt worden waren: Demonstranten blockierten Straßen und die Jerusalemer Tram, lieferten sich Scharmützel mit den Sicherheitskräften – dutzende Ultraorthodoxe wurden festgenommen.

WORUM GEHT ES EIGENTLICH?

Viele säkulare Israelis betrachten die rasant wachsende ultraorthodoxe Bevölkerung als Bürde für den Staat, da sie zwecks Tora-Studium sich weder an der Verteidigung des Landes beteiligten noch zur Volkswirtschaft beitrügen. Angesichts niedriger Löhne und hoher Mieten wachsen die Ressentiments. Die Politik greift derartige Gefühle auf: Ex-Finanzminister Yair Lapid etwa erkor den vermeintlich geringen Beitrag der Ultra­orthodoxen zum israelischen Gemeinwohl bei den letzten Wahlen zu einem seiner Hauptthemen. Ultraorthodoxe Vertreter verweisen dagegen auf die Bedeutung der Religion für das Überleben des jüdischen Volkes. Das Tora-Studium habe die Juden über Jahrhunderte »wie eine Klammer zusammengehalten«, so der ehemalige Innenminister der Schas-­Partei, Arye Deri. Parallel schwelt zwischen der höchsten juristischen Instanz Israels und den von Netanyahu angeführten rechtsnationalen Regierungen seit Jahren ein Konflikt. Immer wieder hat das Gericht diskriminierende Gesetze zu Fall gebracht, sei es in Bezug auf die besetzten Gebiete oder den Umgang mit Migranten.

WIE GEHT ES NUN WEITER?

Die Regierung hat knapp ein Jahr Zeit, das Urteil des Gerichts umzusetzen. Doch in dem Fall droht die Koalition zu zerbrechen. Vorgezogene Neuwahlen wären die Folge – mal wieder. Opportunistische Teile der Opposition wie Lapids Partei Yesh Atid wären sicherlich bereit, für ein paar Ministerposten die Funktion des Königmachers für Netanjahu von den ultraorthodoxen Parteien zu übernehmen. Alternativ könnte Netan­yahu es auf einen Machtkampf mit dem Obersten Gerichtshof anlegen und die Befugnisse des Gerichts per Gesetz einschränken. Wahrscheinlicher scheint ein klassisches Netan­yahu-Manöver: das Urteil nur in Teilen umsetzen, die Koalitionäre nicht vollends vergraulen, den Gerichtshof nicht vollends brüskieren – und irgendwie damit durchkommen. Jede Partei im israelischen Spektrum versucht, sich über eine Position zu dem Thema zu profilieren. Nachdem Teile der Ultraorthodoxen im Oktober eine Demonstration »Tag des Zorns« tauften, kündigten kurz darauf liberale Gruppen ihrerseits einen Protest unter demselben Motto an.


CHRISTOPH DINKELAKER ist Mitgründer des Nahostportals Alsharq und verantwortlich für dessen politische Studienreisen. Zwischen 2012 und 2014 leitete er das Willy-­Brandt-Zentrum Jerusalem.

Von: 
Christoph Dinkelaker
Fotografien von: 
Avinoam Faltin

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.