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Ägypten und die Debautte über sexuelle Freiheit

Was hat Ägypten gegen sexuelle Freiheit?

Feature

Eine Regisseurin spricht sich im Fernsehen für persönliche sexuelle Freiheit aus und sorgt in Ägypten für Empörung. Hinter dem Tabu von außerehelichem Sex steht die Sorge um die Erosion des Sozialgefüges – quer durch alle Schichten.

Ein Aufschrei lässt sich in Ägypten relativ leicht provozieren. Die Regisseurin Inas El Deghedi hat es mit der provokanten These, dass Sex eine Sache persönlicher Freiheit sei, geschafft. In einer Talkshow des arabischen Programms der Deutschen Welle sagte sie: »Ab einem bestimmten Alter ist Sex ist eine Sache der persönlichen Freiheit. Jeder hat Sex nach seinen Ideen, Ansichten, Bräuchen und Traditionen. Ich kann das nicht generalisieren, weil manche Menschen Sex vor der Ehe aus religiösen Gründen verbieten.« In Ägypten, wo außerehelicher Sex gesetzlich verboten und gesellschaftlich verpönt ist, löste sie damit Empörung aus. Islamisten und Religionsgelehrte verurteilten ihre Aussage, einige riefen sogar dazu auf, sie auszupeitschen. Mohamed El-Sahat Guindy, Mitglied der Islamischen Forschungsakademie, sagte, dass Inas Aussage zeige, dass sie als Muslimin ihre Religion nicht respektiere.

 

Ein Professor an der Al-Azhar Universität sagte im Fernsehen, dass die Aussage pornographische Handlungen fördere, was gegen alle Religionsgesetze sei. Ist Sex also eine persönliche Freiheit? Wohl nicht, auch wenn viele sich das wünschen. Was als normal oder unnormal in Sachen sexueller Beziehungen gilt, dass ist immer eine Sache des gesellschaftlichen Diskurses. Manche Diskurse lassen dem Einzelnen mehr Spielraum für persönliche Freiheiten, andere – wie in konservativen Gesellschaften – weniger.

 

In Ägypten ist der gesellschaftliche Druck hinsichtlich Sex enorm hoch. Sex soll außerhalb der Ehe nicht stattfinden – schon gar nicht davor. Wer dagegen verstößt, dem blühen im Zweifel harte Konsequenzen. Und so wird alles daran gesetzt, dass dieser Fall nicht eintritt. Junge Menschen beiden Geschlechts wohnen bis zur Ehe bei ihrer Familie, die sie stark überwacht. Besonders junge Frauen werden in ihren Freiheiten oft stark eingeschränkt – in allen Schichten.

 

So etwa die 24-jährige Amina, die seit jeher rund um die Uhr von ihren Eltern überwacht wird. Sie kommt aus gutem Hause, war auf einer Privatschule und dann auf der elitären Amerikanischen Universität in Kairo. Jeden Tag wurde sie von einem Fahrer hingefahren und abgeholt, ihr Vater kannte den Stundenplan, außerhalb der Universität durfte sie nirgendwohin. Nun wird sie jeden Tag zu ihrer Arbeit gefahren, wo ihr Vater viele Mitarbeiter kennt, die regelmäßig nach ihr schauen. Amina betet nicht und trägt enge Klamotten, sie macht nicht gerade einen religiösen Eindruck.

 

Es geht hier nicht um Moral, sondern es geht ihren Eltern um Sex. Genau wie bei Dina (25). Sie ist geschieden und hat einen Sohn. Sie kommt aus bescheidenem Elternhaus, in das sie nach ihrer Scheidung zurückgekehrt ist. Seither hat sie keine andere Wahl, als das Haus nur noch zusammen mit ihrer Mutter zu verlassen. Andernfalls würden die Nachbarn über sie reden (sie als geschiedene Frau könnte sich ja mit jemandem vergnügen), ihr Ruf wäre ruiniert und sie würde womöglich nie mehr heiraten. Immer wieder wird spekuliert, dass immer mehr Jugendliche sich den Traditionen widersetzen und das Tabu brechen.

 

Und sicherlich ist es heutzutage zumindest in großen Städten deutlich leichter, ein Liebesleben zu haben, ohne dass die Eltern es mitbekommen. Jedoch sollte dieser »Trend« auch nicht überschätzt werden. Denn einerseits ist die gesellschaftliche Kontrolle immer noch so stark, dass solch ein Doppelleben für die allermeisten rein organisatorisch nicht möglich ist. Wohnungen werden an Unverheiratete so gut wie nie vermietet, zu Hause bei den Eltern kann man sich auch nicht zu zweit zurückziehen. Außerhalb zu übernachten, verbieten die allermeisten Eltern ihren Kindern.

 

Die Tabuisierung hat weniger mit Religion, als mit dem gesellschaftlichen Fundament zu tun

 

Andererseits ist den meisten jungen Menschen, vor allem jungen Frauen, wohl klar, was die Konsequenz dieser persönlichen Freiheit ist. Die jungen Männer, die angeben, kein Problem mit vorehelichem Sex zu haben, sagen eben auch, dass sie niemals eine Frau heiraten würden, die keine Jungfrau mehr ist. Dabei geht es nicht nur um das zerstörte Jungfernhäutchen, das sich ganz modern theoretisch per Operation wiederherstellen lassen könnte. Es geht vor allem um den Ruf. Ist der erst ruiniert, bricht oft das soziale Leben zusammen und eine Ehe wird unmöglich.

 

Wenn eine junge Frau sich also auf eine sexuelle Beziehung einlässt, setzt sie sich der Gefahr aus, dass ihr Partner sie nach einer möglichen Trennung verrät. Was steckt hinter diesem starren Tabu? Natürlich starke religiöse Überzeugung gekoppelt mit einer konservativen Auslegung von Religion. Jedoch ist Religion nicht alles. Es ist vielmehr das gesellschaftliche Fundament, dass auch auf der Tabuisierung von Sex beruht. Ohne Sozialstaat und ohne wirtschaftliche Absicherung sind die allermeisten Ägypter auf die Familie angewiesen, um ihr Auskommen in Notsituationen und im Alter zu sichern.

 

Damit die Familie weiterhin besteht, müssen die Kinder heiraten und ebenfalls Nachwuchs bekommen. Heirat ist jedoch in Ägypten ein zweischneidiges Schwert: Es ist nicht immer romantisch, viele suchen sich ihren Partner nicht aus, und es ist mit einem großem finanziellen Opfer verbunden. Warum sollte man sich das antun? Weil die Ehe den Eintritt in ein neues soziales und sexuelles Leben bedeutet. Hohe Scheidungsraten zeigen jedoch: die Traditionen bröckeln, das gesellschaftliche Modell ist nicht mehr zeitgemäß. Wird Inas El Deghedis Aussage also bald kein Tabu mehr sein?

Von: 
Victoria Tiemeier

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