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Afrikanischen Flüchtlinge in Israel

Ihre Stimme

Feature
von Nira Yadin

Jacky Zaidan führt die Gemeinschaft der afrikanischen Flüchtlinge in Israel an. Seine Lebensgeschichte ist voller Brutalität – und doch macht sie vielen Betroffenen Mut. Ein Protokoll.

Als die Soldaten in dem Dorf ankamen, ermordeten sie alle. Die Männer versuchten, sich zu wehren. Ihre Rache übten die Soldaten an den Schwachen aus. Sie töteten die Alten und die Kinder. Und sie vergewaltigten die Mädchen und Frauen. Die Dorfbewohner gaben auf und flohen. Ich war zwölf Jahre alt, als der Kontakt zu meiner Familie abbrach. Traumatisiert von dem Massaker habe ich mich auf einem Boot versteckt, wo ich drei Tage ohne Wasser und Essen lag. Bis die Soldaten mich fanden und ohne Verhandlung ins Gefängnis steckten.

 

Jacky Zaidan, der charismatische Anführer der »Bnai Darfur« erzählt die Geschichte seiner Flucht vor dem Völkermord in Darfur in perfektem Hebräisch. Zaidan, 25, ist der Anführer und öffentliche Sprecher der Gemeinschaft der afrikanischen Flüchtlinge in Israel. Als solcher führt er die Verhandlungen mit dem israelischen Außenministerium sowie mit vielen nationalen, öffentlichen und offiziellen Organisationen. Er ist der erste schwarze Flüchtling, der eine offizielle Demonstration organisiert hat.

 

Und derjenige, der für alle Gewalt und alle Schäden im Laufe der Demonstrationen die volle Verantwortung übernimmt. Zaidan leitet den Protest von tausenden Flüchtlingen aus Eritrea und dem Sudan. Sie wollen die israelische Regierung dazu bringen, sich an die Genfer Konvention zu halten und den 60.000 illegal eingewanderten Kriegsflüchtlingen Asyl zu gewähren. Seit Anfang 2000 haben immer mehr afrikanische Flüchtlinge den Weg nach Israel gefunden. Sie hoffen auf Sicherheit und die Möglichkeit, die finanzielle Situation für sich und ihre Familien aufzubessern.

 

250.000 Migranten, die hauptsächlich in Tel Aviv leben, sind im Land. 60.000 davon sind Eritreer und Sudanesen

 

Das böse Erwachen in Israel kam erst vor kurzem: Als den Behörden plötzlich klar wurde, dass sie sich in der Immigrationspolitik auf dem Weg in eine schwere Krise befinden. Obwohl das Land in den vergangenen beiden Jahren den Zufluss von illegalen Einwanderern erfolgreich gedeckelt hat, ist die Lage alarmierend: 250.000 Migranten, die hauptsächlich in Tel Aviv leben, sind im Land. 60.000 davon sind Eritreer und Sudanesen.

 

Ein Versuch, die Menschen friedlich loszuwerden, indem man sie ausbezahlt, ist gescheitert: Nur wenige nahmen das Angebot an. Im Süden Israels wurden Strafkolonien eingerichtet, in denen die Immigranten untergebracht wurden. Ihre Lebenssituation verschlechterte sich zusehends. Sie waren nicht in der Lage, Wohnräume zu mieten oder ihren Unterhalt zu verdienen. Die Hoffnungslosigkeit äußerte sich schnell in einer Kultur des Verbrechens. Raub, Diebstahl, Vergewaltigung und Mord sind an der Tagesordnung.

 

Zaidan hat es geschafft, den Unmut zu wandeln. Unter Mitarbeit von Menschenrechtsaktivisten hat er die Flüchtlinge friedlich vereint, nahm ihre Führung an und versprach, sich für die Rechte aller einzusetzen. Martin Luther King sagte einmal, er werde der erste Afroamerikaner sein, der die Amerikanische Staatsbürgerschaft erhält. Ich werde der erste Afrikaner sein, der in Israel als Asylbewerber akzeptiert wird. Für dieses Ziel sei er bereit, zu sterben.

 

Jacky Zaidan wurde 1988 in einem kleinen Dorf in Darfur in eine arme Familie hinein geboren, als dritter von vier Söhnen. Die Dürreperiode am Ende des 20. Jahrhunderts führte zu inneren Konflikten und schließlich zu einer fünfzehnjährigen Diktatur, die 2003 im Völkermord eskalierte. Die Truppen der Khartum unterstellten Regionalregierung vernichtete ganze Dörfer, alle Familien wurden umgebracht. Auch in Zaidans Dorf haben die meisten nicht überlebt.

 

Als er floh und den Kontakt zu seiner Familie aufgeben musste, wusste er nicht, ob auch nur einer davon am Leben bleiben würde. In einem Boot hatten er und fünf seiner Freunde ein Versteck gefunden, tagelang von Nahrung und Wasser abgeschnitten. Als sie von Soldaten entdeckt wurden, wurden sie umgehend verhaftet. Damals war Zidan 14 Jahre alt. Nach zwei Jahren wurde er aus dem Gefängnis entlassen, und begann, nach seiner Familie zu suchen.

 

Durch das Flüchtlingshilfswerk UNHCR fand er heraus, dass seine Mutter in ein Flüchtlingslager in den Sudan gebracht wurde, während einer seiner Brüder in einem Lager in Kenia gelandet war. Von den anderen Geschwistern und seinem Vater fehlt bis heute jede Spur. Zaidan wurde schnell klar, dass seine einzige Überlebenschance die Flucht war. Er und seine Freunde suchten 2005 ihren Weg nach Israel.

 

Einziger Ausweg Israel

 

Zaidan ist Teilnehmer einer Demonstration in Tel Aviv. Ein schlaksiger Kerl mit einer klaren, fließenden Stimme, der tausende von Immigranten wie auch Israelis inspiriert, sich zu erheben und von der israelischen Regierung eine Anerkennung der Einwanderer als Kriegsflüchtlinge zu verlangen. Er vertritt sein Heimatland Darfur in seinen teuersten Markenklamotten und einer Silberkette um den Hals: Er sieht anders aus als alle seine Flüchtlingsfreunde.

 

Der junge Wortführer, der von Frieden redet, ohne sich von der Möglichkeit der Deportation einschüchtern zu lassen, hat sich vom größten Friedensprotestler des 20. Jahrhunderts inspirieren lassen. Mahatma Gandhi ist sein Vorbild. Bevor er 2007 in Israel ankam, lebte Zaidan zwei Jahre lang in Ägypten.

 

Ich war damals sowohl minderjährig als auch mittellos. Arbeiten durfte ich als Flüchtling nicht. Da die Regierungen von Ägypten und Darfur zusammenarbeiten, musste ich sehr vorsichtig sein. In Ägypten als illegaler Einwanderer entdeckt zu werden, hätte meine Hinrichtung bedeutet. Mein Ziel war es, über die Grenze nach Israel zu gelangen. Die einzige Möglichkeit, das zu bewerkstelligen, war es, mich einer Beduinenkarawane auf dem Weg durch die Wüste anzuschließen. Sie verlangten 150 Dollar von mir.

 

Ich habe dann zwei Jahre in einem Geschäft gearbeitet, und am Ende 70 Dollar zusammengespart. Ich hatte Glück: Die Beduinen entschlossen sich, mir den Rest des Geldes zu erlassen. Als es so weit war, wurde ich mitten in der Nacht aufgeweckt und mit einem Taxi von Kairo nach Gizeh gebracht, wo alle Auswanderer – Sudanesen, Somalier und Eritreer – auf Busse warteten, die sie zur israelischen Grenze bringen sollten. Weder ägyptische noch israelische Soldaten waren zu sehen.

 

Hatte er keine Angst davor, so jung alleine in einem fremden Land zu sein? Ich habe mir mehr Sorgen um meine Familie gemacht. Ich wusste, dass ich immer irgendetwas zu essen finden würde, also war meine Situation bedeutend besser als ihre. Ich fragte mich häufig, wo sie wohl waren, und ob sie überhaupt noch lebten. Von uns hier hatte zwar keiner Geld, aber wenn einer von uns etwas für Essen bekommen hatte, haben wir es uns alle geteilt. Zaidan erzählt von seiner Ankunft in Israel.

 

Mit fünf meiner Freunde habe ich die Grenze überquert. Wir waren den ganzen Tag gelaufen, ohne Nahrung oder Wasser finden zu können. Auf der Suche nach einer Quelle wurde ich auf einen Baum aufmerksam, der auf einem Hügel stand. Ich rannte den Hügel hinauf. Ein Baum mit grünen Blättern muss irgendwie Zugang zu Wasser haben, dachte ich. Auf der anderen Seite des Hügels war ein Stacheldrahtzaun. Aus Durst und Verzweiflung versuchte ich, lautstark auf mich aufmerksam zu machen. In der Hoffnung, dass irgendein Mensch mich hören könnte.

 

Das wurde meine erste Erfahrung mit israelischen Soldaten. Sie waren bewaffnet und fragten mich auf Englisch, wer ich sei und wie ich hierher gekommen sei. Ich antwortete, dass ich nach Israel gelaufen sei und bat sie um Wasser. Ich musste mich erst ausziehen, bevor sie mir etwas zu trinken gaben. Ich erzählte den Soldaten, dass ich nicht alleine war, dass meine Freunde unbedingt auch Wasser bräuchten. Ich hatte Angst, weil ich ihnen erzählen musste, dass einer meiner Freunde bereits verdurstet war. Als sie mir nicht glauben wollten, sagte ich ihnen, sie sollten ihn mit einem Stock berühren, um sich zu überzeugen.

 

»Als alle meine israelischen Freunde ihren Wehrdienst begannen, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als auch mitgehen zu dürfen«

 

Zaidans Weg führte dann ins Gefängnis Kziot, wo er 20 Tage einsaß und verhört wurde, wo er aber auch einen Anwalt gestellt bekam, der sich für ihn einsetzte. Alle Verhöre wurden auf Englisch gehalten. Schließlich wurde er freigelassen, mit einem Dokument in der Hand. Es sollte sein Visum sein, seine Freikarte nach Tel Aviv. Wasser, Lebensmittel oder Geld wurden ihm für die lange Reise nicht gegeben. Und auch das Leben in Tel Aviv war am Anfang nicht leicht. I

 

ch war 17, als ich im Lewinski-Garten im Süden von Tel Aviv ankam. Ich war sechs Monate obdachlos, bevor eine israelische Jugendorganisation mich aufnahm. Dann durfte ich die staatliche Schule für neue Immigranten besuchen und habe grundlegendes Hebräisch gelernt. Nach drei Monaten war diese Bildung abgeschlossen, und weil ich alle Tests erfolgreich bestanden hatte, wurde ich in ein Internat geschickt, wo ich weiterlernen und einen Schulabschluss erreichen konnte. Ich war der erste sudanesische Schüler in Israel, gefolgt von vielen anderen.

 

Als alle meine israelischen Freunde ihren Wehrdienst begannen, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als auch mitgehen zu dürfen. Ich wollte der Armee und dem Land dienen, die mein Leben damals gerettet hatten. Leider sagten sie mir, dass mir dieser Wunsch als Flüchtling verwehrt bleiben würde. Ohne weitere Aufgabe oder Perspektive in meinem Leben ging ich zurück zum Startfeld, dem-Lewinski Garten im Süden von Tel Aviv. Ich war wieder obdachlos, suchte nach Arbeit, nach Gelegenheitsjobs, einfach allem, das mich über Wasser halten würde.

 

Meine alten Freunde und ich schlossen uns wieder zusammen und mieteten eine Wohnung für 2.800 Schekel im Monat. Hatte Zaidan kein einziges Mal mit dem Gedanken gespielt, sich bei den palästinensischen Behörden zu melden? Würde seine Geschichte dort nicht am ehesten Verständnis hervorrufen? Flüchtlinge, die sich den palästinensischen Behörden anvertraut haben, sind alle angeklagt und ermordet worden. Niemand ist dort je lebend herausgekommen. Die Regionalregierung in Darfur pflegt einen sehr engen Kontakt mit den Palästinensern. Tatsächlich kommen die meisten unserer Anführer ursprünglich aus arabischen Ländern wie Tschad und Libyen.

 

»Alle hatten Angst vor möglichen Sanktionen der Regierung – so wurde ich dann zum Repräsentanten der Asylbewerber«

 

Warum glauben die Flüchtlinge daran, dass ausgerechnet Zaidan ihnen zu einer besseren Zukunft verhelfen kann? Wie ist er zu ihrem Anführer geworden? Während meiner Zeit im Internat wurden mir viele politische und ideologische Ideen unterbreitet. Ich habe viele hebräische und englische Bücher von Leuten wie Herzl, Scharon, Martin Luther King und Gandhi gelesen. Heute spreche ich acht Sprachen und kann auf Englisch, Hebräisch, Arabisch und Darfurisch lesen und schreiben.

 

Als ich nach dem Schulabschluss in den Süden von Tel Aviv zurückkehrte, traf ich einige Studenten, die zusammen die Organisation »Bnai Darfur« gegründet hatten. Es dauerte nicht lange, bis sie mich als Redner einspannten, sowohl wegen meiner Ausbildung als auch wegen meiner Erfahrung mit dem Leben als Flüchtling. Die meisten Mitglieder bekamen Angst, als die Bürger im Süden von Tel Aviv auf der Straße gegen uns demonstrierten, also habe ich mich an die Spitze gestellt, um die Organisation am Leben zu erhalten.

 

Was aber unterscheidet ihn von anderen Flüchtlingen, die in Israel studiert haben? Es gibt viele Flüchtlinge hier, die noch viel besser ausgebildet sind als ich, einige haben sogar an Universitäten studiert. Aber als die Organisation nach jemanden suchte, der sich einsetzt, um die Situation der Flüchtlinge in Schulen und anderen Institutionen anzusprechen, war ich der Einzige, der sich freiwillig meldete. Sie hatten alle Angst vor möglichen Sanktionen der Regierung gegen sie.

 

So wurde ich dann zum Repräsentanten der Asylbewerber. Da ich die Geschichte Israels und die Biographien der bedeutendsten Anführer des Landes studiert habe, fühlte ich mich kompetent genug für die Rolle des Sprechers. Ich bin der erste, der angesprochen wird, wenn es um die Gemeinschaft der Flüchtlinge geht. Ich glaube an mich selbst und an das Ziel, für das wir kämpfen. Ich allein nehme persönlich die Verantwortung für allen Aufruhr während der Proteste auf mich. Die Polizei redet nur mit mir über diese Themen.

 

»In Frieden und Würde leben können – egal in welchem Land«

 

Welchen Ansatz hat Zaidan, wenn er mit dem israelischen Außenministerium verhandelt? Wie verdeutlicht er der Politik, wieso diese Flüchtlinge nach Israel kamen? Als 2003 die Gewalt im Darfurkrieg ihren Höhepunkt erreichte, hatten die Männer außer der Flucht keine Alternative mehr. Die Armee zwang uns durch unsere Frauen, Kinder und alten Leute in die Knie. Wir mussten entweder die Waffen niederlegen um, unsere Familien zu retten oder verschwinden. Länder wie Saudi-Arabien, Ägypten und Libyen waren keine Option, da sie die Diktatur unterstützten und sich nicht an die Genfer Konventionen hielten. Israel dagegen ist ein demokratisches Land, das die Gesetze zum Schutz der Menschenrechte respektiert.

 

Seinen Alltag verbringt Zaidan damit, humanitäre Hilfe zu leisten. Er kümmert sich um die Bedürfnisse von Flüchtlingen, die im Süden Israels in Gefängnissen sitzen. Er sorgt dafür, dass sie Nahrung, Kleider und Medikamente bekommen. Er kümmert sich auch um die schulische Bildung ihrer Kinder und versucht, sie nachts von der Straße zu halten. Seine Sprachkenntnisse nutzt er, um Frauen, deren Männer in Gefängnissen gehalten werden, bei der Kommunikation mit den Behörden zu unterstützen.

 

Er arbeitet an einer nationalen und internationalen Kampagne, die auf die Situation der Flüchtlinge in Israel, aber auch in anderen Ländern der Welt aufmerksam machen soll. Ich träume davon, an einer Universität weiter lernen zu dürfen. Auch meine Sprachkenntnisse möchte ich noch weiter ausbauen. Ich würde mir gern eine stabile Zukunft aufbauen. Vor allen Wünschen für mich selbst aber würde ich am liebsten sehen, dass alle Flüchtlinge das Recht und die Möglichkeit erhalten, in Frieden und Würde leben zu können. Egal, in welchem Land.

Von: 
Nira Yadin

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