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Ashraf Ghani und Korruption in Afghanistan

Afghanistans Neuanfang in engen Grenzen

Feature

Ashraf Ghani gelobt bei seiner Amtseinführung einen neuen Regierungsstil, muss aber von Anfang Kompromisse eingehen. Afghanistans Präsident wird sich auch daran messen lassen müssen, wie ernsthaft er der Korruption im Land begegnet.

Die Szene hat Symbolcharakter: Noch bevor Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai am Montag, dem 29. September 2014, in Kabul seinen Amtseid ablegte, entbrannte hinter den Kulissen ein Streit darüber, wann und ob Abdullah Abdullah, Ghanis Rivale und künftiger »Chief Executive« – und damit so etwas wie der neue Premierminister – ebenfalls während der Zeremonie das Wort ergreifen würde. Es brauchte den Kabuler US-Botschafter zur Vermittlung, um den Streit beizulegen, so wird berichtet.

 

Am Ende durfte Abdullah sogar noch vor Ghani zu den versammelten Honoratioren, Diplomaten und Journalisten und dem afghanischen Fernsehvolk sprechen. Als dann Ghani an der Reihe war, unterzeichnete er als eine seiner ersten Amtshandlungen ein Dekret, das Abdullah eine Funktion verbrieft, die die afghanische Verfassung gar nicht vorsieht. All dies geschah vor den Augen der Geberländer, die lediglich ihre zweit- und drittrangigen Vertreter zur Inauguration nach Kabul geschickt hatten.

 

Neben der angespannten Sicherheitslage in Kabul mag ein Grund dafür sein, dass Washington und der Westen den friedlichen Machtwechsel dann doch nicht als so demokratisch ansehen, wie es mancher Reporter suggeriert. Denn tatsächlich waren die vergangenen Monate eine Zeit der angestrengten Suche, ja des Kampfes um Transparenz und um die Durchsetzung des Volkswillens – nur damit dieser am Ende wieder in Frage gestellt wurde. Jedenfalls wurde auf Drängen Abdullah Abdullahs kein abschließendes Wahlergebnis veröffentlicht.

 

So als sei dessen Verkündung – so viel Fälschung es auch gegeben haben mag – eine Privatsache in den Händen weniger und nicht ein Akt der demokratischen Rechenschaft gegenüber der afghanischen Öffentlichkeit, die über der monatelangen Auszählung der Stimmen ihren Glauben an Demokratie und staatliche Institutionen zum Teil verloren hat.

 

Die neue Regierung im Zeichen nationaler Einheit zwingt Ghani von Anfang an zu erheblichen Kompromissen. Zusammen mit vorprogrammierten Konflikten um die paritätische Besetzung so ziemlich aller Ämter und Posten, die im Land zu vergeben sind, könnte dies die Stabilität auf eine Probe stellen, führt es doch Doppelstrukturen, die eher klientelistisch als gesellschaftlich allumfassend ausgelegt werden.

 

Dabei geht es bei der paritätischen Ämtervergabe nicht nur um ethnischen Proporz und das Verheilen von Wunden, die der Wahlkampf aufgerissen hat, sondern auch um die Frage, wie praktikabel eine Koalitionsregierung und -logik in einem Land ist, das keinerlei demokratische Erfahrung mit der Machtteilung zwischen Sieger und Opposition hat.

 

Könnten also die Folgen des von US-Außenminister Kerry in die Wege geleiteten Deals so weitreichend sein, dass Ashraf Ghani bald als »lame duck« da steht, mit noch mehr Zwang zum Kompromiss als Vorgänger Hamid Karzai gegenüber den gewendeten Warlords und Konservativ-Religiösen in seiner Amtszeit? Oder spinnt Ghani gar das System weiter, das sein Vorgänger perfekter zum Leben gebracht hat, als es die meisten ausländischen Beobachter wahrhaben wollen, inklusive seines eigenen Überlebens.

 

Die Öffentlichkeit erwartet, dass Ghani den versickerten Millionen der Kabul-Bank auf den Grund geht

 

Karzai, so schrieb jüngst ein Beobachter, der über die Jahre Kabul bereist hat, habe das politische System vorbei an der Verfassung, Parlament und Kabinetten immer als Fortsetzung traditioneller Machtpolitik verstanden, mit gekauften und geliehenen Loyalitäten, und trotzdem instabil im Inneren aufgrund der ethnischen Rivalitäten und Feindschaften zwischen den Clans. Ist Afghanistan also unregierbar? Man würde es sich zu einfach machen damit, auch weil die Zeit vor den Kriegen den Beleg liefert, dass der Kampf um Moderne und Fortschritt ein Zuhause in Afghanistan hat und sogar integraler Bestandteil der Geschichte des Landes in den vergangenen 130 Jahren ist.

 

Gespannt darf man vor allem sein, ob und wie Ghani die Korruption bekämpfen wird. Künftig, so hat er bei der Vereidigung angedeutet, solle die Justiz unabhängiger auftreten und Familienangehörige auch in der Staatsspitze nicht mehr vor Strafverfolgung geschützt sein – ein Wink Richtung Präsident Karzai und den Skandal um die versickerten Millionen der Kabul-Bank, an dem auch ein Karzai-Bruder beteiligt ist und der bislang noch zu keiner nennenswerten Verurteilung der mutmaßlich Schuldigen geführt hat.

 

Einiges deutet in der Tat darauf hin, dass Ghani in diesem Fall die Hände gebunden sind. Zumal wenn, was sich ankündigt, Hamid Karzai auch in Zukunft in den Grenzen des Präsidentenpalastes als Berater der Regierung fungieren wird und sicher kaum das Ziel verfolgt, bestimmte Patronage-Netzwerke und Machenschaften aus seiner Amtszeit offen zu legen. Zugleich werden die Bevölkerung und das Ausland erwarten, dass Ghani in dieser Hinsicht »liefert«. Korruptionsbekämpfung muss nach allen Maßstäben schon deshalb ein Desiderat sein, damit die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise nicht Überhand nimmt. Die Staatkassen sind leer.

 

Nicht nur die neuen Streitkräfte sondern auch die Heerschar der eigenen Beamten kann die Regierung nur servil halten, solange der Geldzufluss aus den USA und der Geberländer anhält. Deutsche Beobachter prognostizieren bereits, dass sich die Wirtschafts- und Finanzkrise für die Stabilität des Landes als noch gravierender herausstellen könne als die bekannten Sicherheitsprobleme. Der Blick nach Pakistan verrät, wie beides zusammen weitere ungünstige Konditionen schaffen kann, die den Boden für ein staatliches Gemeinwesen erodieren lassen.

 

Eine öffentliche Rolle für Afghanistans neue First Lady

 

Da ist die Unterzeichnung des Sicherheitsabkommen mit den USA der vermutlich wichtigste Stein im Brett eines Landes, das sich unter Präsident Karzai zuletzt betont bündnis-neutral und Amerika-kritisch gab – kaum verwunderlich, nachdem US-Militär und -Diplomatie faktisch die Verhältnisse in weiten Teilen des Landes mehr bestimmt haben, als es selbst nachhaltig US-freundlichen Afghanen lieb war.  Anders als Hamid Karzai hat Ashraf Ghani lange in den USA gelebt, ist dort mit seiner Familie über fast ein Vierteljahrhundert (spät)sozialisiert worden und wird für seine Verankerung in beiden Welten einen Vertrauensvorschuss aus dem Ausland bekommen.

 

Seine Zeit als beratender Ökonom bei der Weltbank und sein vergleichsweise erfolgreiches Wirken als einer der Finanzminister unter Hamid Karzai sprechen für sich. Allerdings wird Ghani nicht weniger als Karzai auf afghanische Eigenständigkeit und Souveränität pochen, wie er bei seiner Amtseinführung angedeutet hat. Ghani muss dabei kein Freund des Westens werden. Es reicht, eine berechenbare Größe zu sein. In einer Hinsicht überraschte Ghani in jedem Fall: Seine Frau Rula werde sich unverändert gesellschaftlich betätigen.

 

Das lässt aufhorchen. Denn zum einen bekam die Menschen in Afghanistan und weltweit die studierte Frau von Hamid Karzai in den Jahren seiner Amtszeit so gut wie nie zu Gesicht. Zum anderen ist die künftige First Lady Afghanistans libanesische Christin und damit für viele konservative Afghanen eine umstrittene Figur per se. Der ein oder andere einflussreiche Geistliche in Kabul hat bereits zu Protokoll gegeben, dass allein ihre Präsenz im Präsidentenpalast »fatal für den Glauben der Muslime in Afghanistan« sein könne, oder auch dass »Ashraf Ghani viele Fragen in Hinsicht auf seine Frau beantworten müsse, um nicht am Ende als illegitimer Vertreter seines Volkes dazustehen. Noch erscheint es also unvorstellbar, dass Ghani seine Frau zu einem Teil seiner Kampagne im Kampf um »Herzen und Köpfe« macht, die er als Ziel für die nächsten fünf Jahren ausgegeben hat.

Von: 
Martin Gerner

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