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Interview mit pakistanischer Sicherheitsexpertin Amina Khan

»Pakistan sitzt am längeren Hebel«

Interview
von Leo Wigger
Interview mit pakistanischer Sicherheitsexpertin Amina Khan
Flickr / Presswire18

Sicherheitsexpertin Amina Khan erklärt im Interview, warum Pakistans Regierung auf Konfrontationskurs mit den Taliban geht und warum sich die Abschiebung von Millionen afghanischen Flüchtlingen als kontraproduktiv erweisen könnte.

zenith: Die pakistanische Regierung hat bekanntgegeben, dass sie die Afghanen im Land abschieben möchte. Ein Ultimatum lief Ende Oktober ab. Schon über 200.000 Afghanen haben Pakistan in den letzten Wochen verlassen. Worum geht es eigentlich?

Amina Khan: Unsere Flüchtlingspolitik hängt vom Verhältnis zu Kabul ab. Und wenn das belastet ist, dann scheinen wir die Flüchtlingsfrage als Druckmittel zu nutzen. Ob bei Grenzstreitigkeiten oder bei Problemen im Friedensprozess mit den pakistanischen Taliban: Pakistan bringt dann irgendwann die Flüchtlingsproblematik ins Spiel.

 

Wer ist nun betroffen?

Erst einmal die knapp 1,7 Millionen Geflüchteten ohne gültige Dokumente. Wobei Pakistan die Genfer Konvention oder etwa die UN-Konvention zur Aufnahme von Geflüchteten nie unterzeichnet und dennoch mehrere Millionen Menschen aus Afghanistan aufgenommen hat. Aktuell beträgt die Gesamtzahl rund drei Millionen. Die legale Grundlage für die Abschiebungen ist nun das Ausländerrecht. Das heißt, die Maßnahme betrifft alle Ausländer ohne gültige Dokumente. Rechtlich sind die Abschiebungen in formaler Hinsicht also legitim.

 

Sind sie auch sinnvoll?

Pakistan hat nie eine kohärente Geflüchtetenpolitik entwickelt – dort liegt der Fehler. Es herrschen in der pakistanischen Bevölkerung durchaus Vorurteile gegenüber den Afghanen – so ehrlich muss man sein. Vor allem unter Pandschabis und Belutschen, aber selbst in Sindh. Die Paschtunen dagegen waren den Geflüchteten gegenüber aufgeschlossener. Aber seit 2021 beobachte ich eine Verschiebung: Pakistanische Paschtunen stehen den afghanischen Flüchtlingen mittlerweile viel kritischer gegenüber.

 

Doch nun mehren sich Berichte, dass nicht nur Afghanen ohne Aufenthaltstitel betroffen sind. Was ist da dran?

Das nehme auch ich wahr. Es werden auch Afghanen mit gültigen Dokumenten abgeschoben. Eine unglückliche und rechtswidrige Entwicklung. Die aktuelle Politik macht die Gastfreundschaft Pakistans gegenüber Afghaninnen und Afghanen der letzten 40 Jahre zunichte. Und beschädigt die gesellschaftliche Zusammensetzung des Landes zu Ungunsten der Paschtunen.

 

Wo sehen Sie die Ursachen für diese Verschiebung?

Sie ist politischer Natur. Und hängt mit Islamabads Verhältnis zu den Taliban zusammen. In Pakistan herrschte diese Erwartungshaltung: Sobald die Taliban in Afghanistan an der Macht sind, servieren sie uns den pakistanischen Ableger, die Tehrik-e-Taleban Pakistan, (TTP) auf dem Silbertablett. Dieses Kalkül, dass die Taliban die Grenzregion befrieden würden, erwies sich als naiv. Stattdessen sehen wir eine starke Zunahme terroristischer Zwischenfälle. Die TTP nimmt nun sogar vermehrt direkt pakistanische Sicherheitskräfte ins Visier. Aus Sicht von Islamabad besteht die strategische Priorität darin, die Gefahr eines Zweifrontenkriegs mit Indien zu minimieren und dafür zu sorgen, dass der indische Einfluss auf Kabul möglichst gering bleibt. Das ist nun erst einmal gesichert. Aber was man dabei übersehen hat: Die Taliban erkennen die moderne Staatsgrenze zu Pakistan ja nicht einmal an. Denn die geht im Kern auf die sogenannte Durand-Linie zurück, die sich direkt durch die Siedlungsgebiete paschtunischer Stämme zieht – ein Überbleibsel der britischen Kolonialzeit und damit für die Taliban per se nicht akzeptabel.

 

»Die Taliban sind immer noch im Prozess, sich als Regierungsmacht zu konsolidieren«

 

Wie konnte dem pakistanischen Geheimdienst, der eigentlich für realpolitische Manöver und geschickte Intrigen bekannt ist, eine solche Fehleinschätzung unterlaufen?

Ich kann wenig Anhaltspunkte für geschicktes politisches Manövrieren entdecken. Es war abzusehen, dass die Taliban nach der Machtübernahme zuerst auf ihre Eigeninteressen blicken würden, anstatt bedingungslos den Pakistanern zu helfen. Andererseits sind die Taliban durchaus an das Doha-Abkommen gebunden. Auch wenn sie vermutlich dachten, sie könnten gegenüber ausländischen Akteuren signalisieren, sich an Abmachungen zu halten, um dann aber anders zu handeln. Was die Taliban auch nicht verstehen: Letztlich werden sie auf gute nachbarschaftliche Beziehungen angewiesen sein. Pakistan sitzt am längeren Hebel.

 

Wie stehen die afghanischen Taliban zur TTP, den pakistanischen Taliban?

Die Taliban sind immer noch im Prozess, sich als Regierungsmacht zu konsolidieren. Ein Vorgehen gegen die TTP ist zudem deshalb heikel, weil die beiden Organisationen eng verbunden sind – eigentlich zwei Teile desselben Ganzen. Einerseits ist man den pakistanischen Taliban dankbar für deren Unterstützung bei der Eroberung des Landes. Andererseits ist ein positives Verhältnis zu den Nachbarn in der Region überlebenswichtig für das Taliban-Regime – insbesondere für die Handelswege. Insgesamt besteht gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Bevölkerungen auf afghanischer und pakistanischer Seite, so dass beide Staaten nicht unilateral agieren können.

 

Welche Erwartungen richtet Pakistans Regierung an die afghanischen Taliban?

Kabul muss zumindest eine Art von Entgegenkommen zeigen und einen gewissen Druck auf die TTP ausüben müssen. Den afghanischen Taliban sind dabei Grenzen gesetzt, zumal sie verhindern wollen, dass verprellte TTP-Mitglieder sich konkurrierenden Gruppierungen im eigenen Land anschließen. Gleichzeitig kann Pakistan die afghanischen Taliban nicht vollständig verantwortlich machen, denn die TTP ist und bleibt eine pakistanische Bewegung. Also muss Pakistan einen Weg finden, mit diesem Problem umzugehen. Die Flüchtlingsfrage ist nun ein Hebel dafür.

 

Aus Regierungskreisen heißt es, dass auch der Kampf gegen Währungsschmuggel in der Grenzregion eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für die Ausweisungen spielte. Was hat es damit auf sich?

Mag sein, die Dollarreserven im Land sind sehr gering. In den letzten Monaten ist viel Geld über Afghanistan abgeflossen. Die pakistanische Regierung wünscht sich auch hier ein entschiedeneres Vorgehen der Taliban. Aber trotz der schweren Wirtschaftskrise glaube ich nicht, dass die Entscheidung vorrangig aus ökonomischen Gründen getroffen wurde. Es dürfte vor allem um Sicherheitsbedenken gehen. Tatsächlich dürfte der wirtschaftliche Schaden den Nutzen weit übersteigen.

 

»Wir sollten auch den positiven Beitrag anerkennen, den Afghanen für unsere Wirtschaft leisten«

 

Ein Präzedenzfall liegt fast ein Jahrzehnt zurück: Infolge des Terroranschlags der TTP auf eine Schule in Peschawar 2014 wurden 600.000 Afghanen abgeschoben.

Damals erlebte die Teppichindustrie einen Exportrückgang, weil die Mehrheit der Beschäftigten Afghanen sind. Ich denke immer, wir sollten auch den positiven Beitrag anerkennen, den Afghanen etwa für unsere Wirtschaft leisten. Ich habe volles Verständnis dafür, dass wir afghanische Flüchtlinge nicht in großem Umfang aufnehmen können. Aber vielleicht sollte die Regierung etwa das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR um Hilfe bitten, anstatt alle Flüchtlinge rauszuwerfen. Was bringt uns solch ein Schritt denn konkret? Verbessert sich unsere Wirtschaftslage? Werden die illegalen Aktivitäten zum Stillstand kommen? Nein, natürlich nicht.

 

Was können die Taliban konkret unternehmen, um das Vertrauen Pakistans zurückzugewinnen?

Es läuft im Kern immer auf ein Problem hinaus: Der ungeklärte Grenzverlauf zwischen beiden Ländern. Ich verstehe voll und ganz, dass für jede Regierung in Kabul die rechtliche Anerkennung einem politischem Suizid gleichkäme, aber sie ist nun mal international so akzeptiert. Ich halte es sogar für unklug, in dieser Hinsicht immer wieder Druck auf Afghanistan auszuüben. Islamabad sollte sich auf die Minimalanforderung konzentrieren: Kabul muss die Sicherheit der Grenze gewährleisten. Problematisch ist vor allem, dass nun auch Sicherheitskräfte direkt angegriffen werden. Die TTP hat das klar kommuniziert, als die Friedensverhandlungen im letzten November scheiterten: Sie sehen sich im Kampf mit dem pakistanischen Staat. Pakistan muss von den Taliban eine Reaktion einfordern und entsprechende Gespräche liefen ja bereits im Hintergrund.

 

Woran scheitern die bislang?

Zu gleichen Teilen an Unfähigkeit und Unwillen. Soweit ich es mitbekommen habe, sind die afghanischen Taliban grundsätzlich bereit, sich zu bewegen, scheuen aber die Konfrontation mit der TTP – eben auch aus innenpolitischen Erwägungen. Letztlich werden die Taliban sich wieder auf Pakistan zubewegen müssen. Sonst sehe ich keine Möglichkeit, dass sich das bilaterale Verhältnis irgendwann wieder normalisiert.

 

Hat Pakistan seinen Einfluss auf Gruppen wie das Haqqani-Netzwerk verloren?

Die Taliban von heute sind nicht dieselben wie vor zwanzig Jahren. Zumindest im Feld der Diplomatie sind sie geschulter. Sie interagieren mit mehr Partnern und erhalten dafür auch Gegenleistungen. Die afghanischen Taliban sind nicht mehr allein auf Pakistan angewiesen. Und das verringert automatisch Islamabads Einfluss. Auf der anderen Seite übt Pakistan auch nicht genug Druck auf aus. Ich bin ernsthaft davon überzeugt, dass wir von den Taliban ganz andere Zugeständnisse bekommen könnten, wenn die Nachbarländer sich zusammentun würden. Nach dem Motto: Wir helfen euch bei der Bewältigung eurer humanitären Probleme, aber dafür verlangen wir folgende Gegenleistungen.

 

»Eine weitere Eskalation und selbst eine permanente Grenzschließung sind denkbar«

 

Auch China hatte Probleme mit Islamisten, in diesem Fall uigurischen Gruppen, in Afghanistan. Aber Beijing erlebt keine vergleichbaren Spannungen wie Pakistan. Was läuft anders?

Anschläge wie in Pakistan würden das über Nacht ändern. Aber natürlich ist der Kontext anders. Erstens: Die Chinesen haben keinen zu Pakistan ansatzweise vergleichbaren historischen Ballast in Afghanistan. Sie werden stattdessen als unabhängiger und neutraler Akteur gesehen. Von Aschraf Ghani und Hamid Karzai genauso wie nun von den Taliban. Das macht vieles einfacher. Zweitens: Ich verstehe die chinesischen Bedenken gegenüber der »Islamischen Turkestan-Partei« (ETIM). Aber ich halte die Gefahr für übertrieben. Unter Präsident Ghani hat Afghanistan viele Uiguren abgeschoben. Und dabei sichergestellt, dass diese kein Sicherheitsrisiko für China darstellen. Mit den Taliban verhält es sich nicht anders: Sie brauchen China. Mehr als 70 chinesische Firmen haben seit der Machtübernahme der Taliban bereits in Afghanistan investiert.

 

Kann China nun zwischen den Taliban und Pakistan vermitteln?

Sicherlich. Chinesische Mediation zwischen Pakistan und Afghanistan hat eine gewisse Tradition, auch etwa unter Hamid Karzai und Ashraf Ghani. Auch mit den afghanischen Taliban fanden in der Vergangenheit Track-2-Verhandlungen unter chinesischer Aufsicht statt. Beijing hat sich bei Verstimmungen zwischen den Taliban und Islamabad schon häufiger vermittelnd zwischengeschaltet und zum Beispiel 2018/19 eine Waffenruhe ausgehandelt. Meines Wissens wird das auch jetzt wieder in China diskutiert. Denn China kann nur dann eine signifikante Rolle in der Region spielen, wenn sich Kabul und Islamabad einigermaßen verstehen. Nur: Ich glaube nicht, dass Pakistan aktuell Interesse an Verhandlungen mit den afghanischen Taliban hat, ganz egal unter wessen Schirmherrschaft.

 

Am 8. Februar sollen in Pakistan endlich die verschobenen Parlamentswahlen stattfinden. Geht es bei der Abschiebeoffensive in Wahrheit darum, die Parteien, die dem Militär nahestehen, zu stärken? Und somit den verhafteten Oppositionsführer Imran Khan zu schwächen?

Das glaube ich nicht. Die Abschiebeoffensive trägt eindeutig die Handschrift des Militärs. Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung kritisieren sie, auch öffentlich. Ich denke also nicht, dass das etwas mit den Wahlen zu tun hat. Und die aktuelle Übergangsregierung, die selbst aus vielen Paschtunen und Belutschen besteht, hat wenig politischen Handlungsspielraum, gegen den Willen des Militärs etwas zu ändern.

 

Wie könnte es nun weitergehen?

Ich befürchte, dass es kein Einlenken geben wird, solange die Taliban keine nennenswerten Konzessionen machen und die Anschläge auf Sicherheitskräfte in der Grenzregion nicht spürbar zurückgehen. Stattdessen ist eine weitere Eskalation und selbst eine permanente Grenzschließung denkbar. Die Verärgerung im pakistanischen Militär über die Taliban ist zu groß. Doch aktuell erleben wir eine kurzsichtige und kontraproduktive Politik. Wir bräuchten stattdessen eine Debatte in Pakistan darüber, wie wir langfristig mit den TTP umgehen wollen. Denn die Organisation wird nicht einfach verschwinden.



Interview mit pakistanischer Sicherheitsexpertin Amina Khan

Amina Khan ist Direktorin des Zentrums für Afghanistan, den Nahen Osten und Afrika (CAMEA) am Institut für Strategische Studien (ISSI) in Islamabad.

Von: 
Leo Wigger

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