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Buch über Israels Zukunft von Diana Pinto

Das Möbiusband-Phänomen

Feature

Diana Pinto hat ein faszinierendes und anspruchsvolles Buch über Israels Zukunft geschrieben. Die originellen und kritischen Gedanken der Historikerin zu den inneren Widersprüchen des Landes beruhen auf den entscheidenden Fragestellungen.

Wirtschaftlich spielt Israel mittlerweile in der Liga der Großen mit. Pro Kopf zieht man doppelt so viele Risikokapital-Investitionen an wie die USA und sogar 30 Mal mehr als Europa. Dan Senor und Saul Singer haben den Weg des einstigen sozialistisch geprägten Kibbutz-Staates zwischen Mittelmeer und Jordan meisterhaft und preisgekrönt vor zwei Jahren in ihrem Buch »Start-up Nation Israel« nachgezeichnet. Nun hat Diana Pinto ein nicht minder faszinierendes und gleichsam anspruchsvolles Buch über Israel veröffentlicht: »Israel ist umgezogen«. Sie beleuchtet auf der Basis von persönlichen Gesprächen und Erfahrungen beide Seiten der Medaille.

 

Die eine, eben jenes »Silicon Wadi«-Phänomen, ebenso wie die andere, die des »israelischen Dorfes«, das seinen arabischen Anrainerstaaten den Rücken zugekehrt hat und mehr denn je einem exklusiven Demokratieverständnis zuneigt; die Gründe hierfür sind mannigfaltig. Die Ausführungen der französischen Historikerin zur »westlichen« Wahrnehmung Israels treffen den Nagel auf den Kopf. Die in feuilletonistischen Leitartikeln, Talkrunden im Fernsehen oder auf Podiumsdiskussionen von selbsternannten Think Tanks diskutierte Zukunft von Israel und Palästina als friedlich nebeneinander existierenden Staaten oder gar als vorgestellte Verschmelzung »Palrael« hat mit der Realität vor Ort wenig gemein. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Menschen dort und hier tagtäglich umtreibt, ist zu einem scheinbar unüberbrückbaren Graben geworden.

 

 

»Das Super-Israel leidet am Asperger-Syndrom«

 

Und so hält man sich zwischen Brüssel und Washington an jedem noch so dünnen Strohhalm des Friedens fest, der in verbalisierter Form von Israelis und Palästinensern gereicht wird, um das eigene gedankliche Kartenhaus nicht vor den eigenen Augen zusammenbrechen zu sehen. Gleichzeitig diskutiert man in Tel Aviv und Haifa über astronomische Käse- und Mietpreise; kurzum: In Pintos Augen findet eine Abwendung des Einzelnen von den großen hin zu den Fragen des Alltags statt, die primär um wirtschaftliche und sicherheitspolitische Aspekte kreisen. Pintos Gesprächspartner, die einen religiös, die anderen säkular, konstatieren deshalb unisono: »Das Super-Israel weltweiter Spitzenleistungen wird plötzlich zum autistischen Israel, das am Asperger-Syndrom leidet, zum bipolaren, schizophrenen, paranoiden, psychotischen und starrsinnigen Staat.«

 

Diese drastische Feststellung führt die Autorin in ihrem länglichen Essay von mehr als 200 Seiten zu der Aussage, Israel sei umgezogen. Wohin? »Israel hat sich trotz seiner Technologie, die es im Zentrum der Weltwirtschaft platziert, wie ein Möbiusband auf sich selbst zurückgezogen. Wenn man das Land als postmodern definiert, hat dies nichts Paradoxes. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft und vor allem seine mehrtausendjährige Erlebniswelt werden so zu einer neuen Kontinuität umgebogen. Es ist also nutzlos, sich in den Windungen der gegenwärtigen Politik der Allianzen und Gegenallianzen, die aus den alten Spannungen hervorgegangen sind, zu verlieren.« Es ist exakt diese Argumentation, die Pintos Ausführungen, die als Reisebericht geschrieben sind, so lesenswert machen. Ihr Fokus liegt auf den inneren Widersprüchen des Landes. Und: Die originellen und kritischen Gedanken der Historikerin hierzu beruhen auf den entscheidenden Fragestellungen. Denn es geht bei der Frage »Quo vadis, Israel?« nicht nur um den Nahost-Konflikt, die Wirtschaft – sondern auch um das vorherrschende Staatsverständnis.

 

Die Gretchenfrage: Exklusion oder Inklusion?

 

Die Zeiten sind offenkundig vorbei, als man sich in Jerusalem ausschließlich am „großen Bruder« USA oder an Europa orientiert hat, gegenwärtig ist vielmehr eine starke Orientierung an China zu beobachten. Und genauso paradox wie jener kommunistische Staat mit seinem Turbo-Kapitalismus und der Einparteienherrschaft scheint sich gegenwärtig Israel zu entwickeln. Die plurale Gesellschaft macht sich daran, die inneren Widersprüche, oder was dafür gehalten wird, zu lösen. Der Umgang mit inneren, religiösen Konflikten ist wohl ein entscheidender, wenn es um das gegenwärtige und künftige Staatsverständnis Israels geht. Schreibt Pinto.

 

Eben jene Gretchenfrage wurde im Jahr 2011 auf einem Panel der Präsidentenkonferenz unter der Fragestellung »Die Konversion: Wer bewacht das Tor der jüdischen Nation?« diskutiert – und damit auch die Frage, was beziehungsweise wer »jüdisch« und somit in gewisser Weise auch, was »israelisch« ist. Diese Frage hat der umstrittene Historiker Schlomo Sand bereits öffentlichkeitswirksam beantwortet und wird dies in seinem nächsten Buch, das im Oktober dieses  Jahres erscheinen wird, wiederum tun. Aber zurück zu Pintos Beobachtungen. Sie schildert die Rede des mittlerweile aus dem Amt geschiedenen Innenministers Eli Jischai von der Schas-Partei. Und der referiert über das sogenannte »Cohen-Gen«, ein in Israel und den USA innerhalb- und außerhalb der Wissenschaft gegenwärtig kontrovers diskutiertes Thema, das im deutschsprachigen Raum gemieden wird.

 

Angestoßen hatte dieses Thema maßgeblich der amerikanische Humangenetiker Harry Ostrer mit seiner Publikation »A Genetic History of the Jewish People«. Darin vertrat er die These, Juden in aller Welt seien genetisch miteinander verwandt – ergo: es sei sinnhaft von einem »Volk« anstelle einer Religionsgemeinschaft zu sprechen. Solche und die von Jischai vorgebrachten Argumente, schreibt Pinto, seien wenig sinnhaft und würden dem Staat Israel mittelfristig einen exklusiven anstelle eines inklusiven Staatscharakters verleihen – sehr zum eigenen Nachteil. Sie schreibt: »Das jüdische Gen…Man hätte sich am Leipziger Institut für Rassen- und Völkerforschung im Jahre 1936 wähnen können, allerdings ›bereichert‹ durch den genetischen Wahnsinn Lyssenkos.«

 

Diana Pintos Verdienst ist es, dem Leser in eben jene Diskussionen einzuführen, gegenwärtig in Israel diskutierte Gesellschaftsfragen aufzuzeigen, somit zu einem differenzierteren Bild beizutragen und abschließend ein wortgewaltiges und gleichsam nachdenkliches Plädoyer gegen jenen »autistischen Ultramodernismus« zu formulieren, »der die drängenden Probleme des jüdischen Staates zu lösen versucht, indem er sie überspringt«. Diese Innenansicht einer profunden Kennerin Israels muss man gelesen haben.


Israel ist umgezogen

Diana Pinto

Thorsten Schneiders (Hrsg.)

Suhrkamp, 2013

239 Seiten, 21,95 Euro

Von: 
Dominik Peters

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