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Die neue Bundesregierung und der Gaza-Krieg

So macht sich Deutschland mitschuldig

Kommentar
Die neue Bundesregierung und der Gaza-Krieg
Am 5. Juni empfängt Außenminister Johann Wadephul seinen israelischen Amtskollegen Gideon Sa'ar in Berlin.

Kanzler Friedrich Merz und Außenminister Johann Wadephul verschärfen den Ton gegenüber Israel – aber die Konsequenzen bleiben aus. So steht Deutschland auf der falschen Seite der Geschichte, sagt Aiman Mazyek.

Immerhin spricht Bundeskanzler Friedrich Merz in Bezug auf Israel und Gaza inzwischen erstmals von völkerrechtswidrigem Verhalten – und bleibt dennoch weit unter den Erwartungen. Denn wirkliche Konsequenzen folgten den Worten in den vergangenen Wochen nicht. Zwar wurde Außenminister Johann Wadephul in dieser Woche noch deutlicher, als er sagte, dass Waffenlieferungen an Israel von einer völkerrechtlichen Überprüfung des militärischen Vorgehens Israels im Gazastreifen abhängig gemacht werden sollten. Aber angesichts des monatelangen Schweigens zu inzwischen über 60.000 palästinensischen Toten, meist Frauen und Kindern, ist das schlicht zu wenig.

 

Denn Politik besteht eben nicht nur aus Symbolik und Signalen. Die verbale Verurteilung seitens der neuen Bundesregierung ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die immer deutlichere Kritik aus Reihen der Internationalen Gemeinschaft an der Bundesrepublik und ihrer Zusammenarbeit mit der Regierung Netanyahu. Eine Konsequenz oder gar einen aus dieser offiziellen Kritik erwachsenen Ansatz eines wie immer gearteten Handlungsschutzkonzept für Millionen Palästinenser in Gaza und dem Westjordanland bleibt Deutschland aber weiterhin schuldig. Damit wird die vielbeschworene Staatsraison erneut zur Chimäre. Dabei sind wir dem Grundgesetz, den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht verpflichtet. Nie wieder! – das ist die zentrale Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg.

 

Doch »Nie wieder!« muss universell gelten – für alle Menschen, überall auf der Welt. Vor einigen Jahren haben wir als erste deutsche muslimische Religionsgemeinschaft diese Verantwortung durch einen Besuch in Auschwitz gemeinsam mit jüdischen Persönlichkeiten bekräftigt. Damals hatte der Besuch weltweit Beachtung gefunden.

 

Doch heute erleben wir in Deutschland eine gefährliche Entfremdung von dieser Haltung. Der Holocaust wird teilweise instrumentalisiert, um moralische Klarheit zu umgehen. Doch Antisemitismus zu bekämpfen, bedeutet nicht, das Recht zu haben, das gezielte Aushungern von Zivilisten in Gaza zu rechtfertigen – und Kritiker an diesem Vorgehen Israels Pauschal als antisemitisch zu diffamieren. 

 

Im Nahostkrieg ist längst der Punkt erreicht, an dem man sich hätte entscheiden müssen

 

Bereits am 8. Oktober verurteilten wir als Zentralrat der Muslime in Deutschland den Terroranschlag der Hamas, eine Woche darauf habe ich in einem Tagesschau-Interview als deutscher Muslim unsere besondere Verantwortung gegenüber dem jüdischen Volk im Kontext unserer historischen Verantwortung herausgestellt. Dafür wurde ich auch aus dem muslimischen Lager heraus heftig attackiert. Zwei Tage später, im ZDF-Morgenmagazin und im Deutschlandfunk, bezeichnete ich bereits – damals noch als Vorsitzender des Zentralrats – Israels Kriegsführung als völkerrechtswidrig, sprach von Kriegsverbrechen und wurde prompt von Teilen des deutschen Establishments und nichtmuslimischen Hatern als antisemitisch diffamiert. Doch beide Aussagen müssen in Deutschland gedacht und politisch umgesetzt werden. Ich bin froh auch beide im Übrigen sich nicht widersprechenden Positionen prominent zum Ausdruck gebracht zu haben.

 

Unsere Regierung und weite Teile der intellektuellen Elite müssen einer bedingungslosen Unterstützung der israelischen Regierung endlich entsagen – gerade, weil sie auch auf Kosten der israelischen Demokratie geht. Im Nahostkrieg ist längst der Punkt erreicht, an dem man sich hätte entscheiden müssen: Entweder steht man auf der Seite der Menschlichkeit – oder auf der Seite des Völkermords. Dazwischen gibt es nichts. Deutschland muss sich hier korrigieren, sonst steht es auf der falschen Seite der Geschichte. Nicht, weil es das jüdische Volk unterstützt – das wäre folgerichtig. Sondern weil es eine rechtsradikale, religiös-fanatische Regierung deckt, die weiterhin Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen begeht – und dies inzwischen nicht einmal mehr als »Selbstverteidigung« tarnt und dies offen zugibt. 

 

Deutsche Politiker gedachten im Mai der charismatischen Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer – ihr Tod ist ein menschlicher Verlust für uns alle. Ihr ganzes Wirken war der lebendige Appel an die Menschlichkeit. Doch während Politiker ihre Worte nachsprechen, schweigen sie zeitgleich zu den Verbrechen in Gaza. Was für eine schmerzhafte Dystopie!



Die neue Bundesregierung und der Gaza-Krieg

Aiman A. Mazyek war von 2006 bis 2010 Generalsekretär und anschließend von 2010 bis Juni 2024 Vorsitzender des religiösen Dachverbands Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD).

Von: 
Aiman Mazyek

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