Im Westjordanland häufen sich die Gewalttaten radikaler Siedler. Immer mehr Palästinenser verlassen ihre Dörfer. Eine Pressetour zu einem der gefährdeten Ortschaften mit den Machern des palästinensisch-israelischen Films »No Other Land« hat das israelische Militär unterbunden.
Ein mit einer Sturmhaube vermummter israelischer Soldat hält zwei gescannte DIN-A4-Seiten in der Hand. Es ist die Order, die zeigt, dass das Militär das Gebiet, in dem er steht, zu einer geschlossenen militärischen Sperrzone erklärt hat. Auf einem der Zettel ist eine kleine schwarz-weiße Karte abgedruckt, die Grenzen der Sperrzone sind darauf nicht zu erkennen. Vor dem Soldaten stehen dutzende Journalisten. Sie waren gekommen, um über ein palästinensisches Dorf zu berichten, das israelische Behörden zerstören und radikale Siedler übernehmen wollen. Jetzt wird klar, dass der Besuch der Reporter nicht stattfinden kann. Die Order gilt für 24 Stunden. Die Armee hat wohl von der Pressetour gewusst.
Das Dorf, um das es geht, heißt Khilet al-Dabe’. Der kleine Beduinenort mitten in der staubigen Wüste des besetzen Westjordanlands ist im vergangenen Jahr international bekannt geworden. Er ist einer der Schauplätze in der mit einem Oscar prämierten Dokumentation »No Other Land«. Der Film zeigt, wie gewaltbereite israelische Siedler palästinensische Bewohner dort attackieren. Der Palästinenser Basil Adra und der Israeli Yuval Abraham haben die Taten gefilmt. Seitdem steigt die Gewalt weiter an: Seit dem 7. Oktober 2023 haben Palästinenser dutzende Dörfer im besetzten Westjordanland verlassen. Auch in der Region Masafer Yatta, wo Khilet al-Dabe’ und die Heimat von Basil Adra liegen. Menschenrechtler warnen, dass radikale Siedler mit Unterstützung der teilweise rechtsextremen Regierung die ethnische Säuberung von Palästinensern vorantreiben.
Khilet al-Dabe’ liegt im C-Gebiet des von Israel besetzen Palästinensischen Westjordanlands, Israel hat hier die Kontrolle. Über 120 Menschen leben dort. Anfang Mai haben die israelischen Behörden einen Großteil der Häuser zerstört und Viehställe niedergerissen (zenith hat darüber berichtet). Israelische Behörden begründen die Zerstörung damit, dass keine Baugenehmigungen vorliegen. Die werden laut UN aber nur in etwa 5 Prozent der Fälle genehmigt. Außerdem liegt das Dorf in einer sogenannten Firing Zone, einem Militärübungsgebiet, das Israel vor Jahrzehnten für die Gegend deklariert hat. Israelische Siedler hält das nicht davon ab, in die Zone einzudringen zu kommen. Derzeit versuchen einige, sich mitten in Khilet al-Dabe’ niederzulassen.
Das israelische Militär geht auf Anfrage nicht näher auf den Grund für die Sperrung des Gebietes am Tag der Pressetour ein
»Jeder Außenposten besitzt bis zu zwei Schafherden, sie breiten sich bis nach Khilet al-Dabe’ aus«, berichtet Dorfvorsteher Jaber Dababshe. Khilet al-Dabe’ sei bereits von allen Seiten von Siedler-Außenposten umgeben. Anfang Mai seien mehrere von ihnen mit ihren Schafen unter dem Schutz der israelischen Armee gekommen und einige Tage geblieben. Die palästinensischen Bewohner lebten zwischen den Trümmern, einige seien in die unterirdischen Höhlen in der Gegend gezogen. »Auch wenn sie uns vertreiben wollen und die Häuser angreifen, die Menschen werden ihr Land nicht verlassen, trotz all er Schwierigkeiten«, sagt Jaber Dababshe.
Die Filmemacher Basil Adra und Yuval Abraham wollen ihre Bekanntheit zu nutzen, um Aufmerksamkeit für die Lage in Khilet al-Dabe’ zu gewinnen. Gemeinsam mit der israelischen Menschenrechtsorganisation B’tselem haben die Macher von »No Other Land« Journalisten eingeladen, um mit ihnen gemeinsam das Dorf zu besuchen. An diesem Morgen Anfang Juni sieht man schon von weitem, wie sich etwa ein Dutzend bewaffnete israelische Soldaten in der kargen Wüstenlandschaft aufstellen. Mehrere Militär- und Polizeifahrzeuge sind am Straßenrand geparkt. Sie versperren den Reportern die Zufahrt zum Dorf.
Basil Adra versucht an diesem Morgen, mit den Soldaten zu sprechen: »Die einzige Demokratie im Nahen Osten verhindert, dass Journalisten in ein palästinensisches Dorf gelangen, das Siedler angreifen!« Der Soldat geht nicht auf ihn ein, dreht sich zu den Kameras: »Wir wahren die öffentliche Ordnung, in der letzten Zeit gab es viele Störer.« Ob er damit die Journalisten meint, will er nicht sagen. Das israelische Militär geht auf Anfrage nicht näher auf den Grund für die Sperrung des Gebietes am Tag der Pressetour ein.
Verteidigungsminister Israel Katz sprach davon, einen jüdisch-israelischen Staat im besetzten Westjordanland zu errichten
Plötzlich entsteht Aufruhr, Moayad Shaaban trifft ein. Er leitet die »Colonisation and Wall Resistance Commission« in der Palästinensischen Autonomiebehörde. Er will die Blockade der Soldaten durchbrechen und schreitet auf sie zu. Aber auch er wird aufgehalten, die Journalisten filmen die Szene. Für Shaaban zeigt die Sperrung: Israelische Behörden wollten vertuschen, dass sie die ethnische Säuberung im Westjordanland vorantreiben. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem zählt, dass seit dem 7. Oktober 2023 rund 1.500 Palästinenser aus Dutzenden Dörfern im besetzen Westjordanland ihre Häuser verlassen haben. Die Übergriffe radikaler Siedler würden die Menschen zur Flucht zwingen.
Für Yuval Abraham, den Co-Regisseur der Dokumentation »No Other Land«, steht fest: »Der Plan ist, einen palästinensischen Staat zu verhindern, und das macht man, indem man den Palästinensern den Raum entzieht.« Basil Adra, der in Masafer Yatta lebt, sieht die Verantwortung bei der internationalen Gemeinschaft: »Trump hat die Sanktionen aufgehoben, das motiviert die Siedler. Europa und die USA machen sich zu Komplizen, indem sie die Siedlergewalt tolerieren.«
Der Internationale Gerichtshof bezeichnet die Besatzung der Palästinensischen Gebiete und die israelische Siedlungspolitik als illegal. Trotzdem hat Israel Anfang Juni 22 zusätzliche Siedlungen angekündigt. Darunter fallen bereits bestehende Außenposten, aber auch der Bau neuer Siedlungen. Verteidigungsminister Israel Katz sprach in der vergangenen Woche davon, einen jüdisch-israelischen Staat im besetzten Westjordanland zu errichten. Und die palästinensische Bevölkerung? Basil Adra und Yuval Abraham sind sich einig: Für sie gibt es kein anderes Land.