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Räumungen, Annexionen und Siedlungen im Westjordanland

Hier liegt die Zweistaatenlösung begraben

Feature
Räumungen, Annexionen und Siedlungen im Westjordanland

Seit Generationen leben in Khilet al-Dabe’ palästinensische Hirtenfamilien. Die ungehinderte Zerstörung im Dorf bei Hebron zeigt, dass Israels Annexion des Westjordanlands längst die nächste Stufe erreicht hat.

Einer der Dorfbewohner* versucht, den Zugang zu einer der ausgebauten natürlichen Höhlen freizumachen, der einige Tage zuvor bei der Zerstörung seines Heimatdorfes durch Soldaten der israelischen Armee, Grenzpolizisten, Beamten der sogenannten Zivilverwaltung und einem Trupp Bauarbeiter zugeschüttet wurde. Stein für Stein bahnt er sich gemeinsam mit seinen Helfern den Weg zurück zu jenem unterirdischen Schutzort, der unter den Trümmern seines zerstörten Hauses begraben liegt. Khilet al-Dabe’ liegt in Masafer Yatta – einem Gebiet von rund 30.000 Hektar im Süden des Westjordanlandes, in dem auch der in diesem Jahr mit dem Oscar ausgezeichnete Dokumentarfilm »No Other Land« spielt.

 

Am 5. Mai 2025 zerreißt dröhnender Lärm die Stille der frühen Morgenstunden. Zwei gelbe Bagger haben das Tor der nicht weit entfernten illegalen israelischen Siedlung Havat Ma’on verlassen. »Wenn die anrücken, weiß man, was das bedeutet: Heute wird zerstört. Die Frage ist nur, wen es trifft«, sagt einer der Bewohner. Sie kennen das lärmende Prozedere nur allzu gut. Doch das Ausmaß der Zerstörung, das an diesem Morgen über das Dorf hereinbricht, übertrifft alles, was sie bisher erlebt haben.

 

Nach rund 90 Minuten zeichnet sich das Ziel der Operation ab: die komplette Zerstörung von Khilet al Dabe’. Nachdem Soldaten alle 49 Dorfbewohner unter Schlägen aus ihren Häusern getrieben hatten, gehen die Bagger ans Werk: Erst zertrümmern sie zwei Brunnen, dann rollen sie in Richtung Gemeindezentrum. Die Einwohner weichen ebenso wie die anwesenden Journalisten auf einen nahe gelegenen Hügel aus. Von dort aus müssen sie hilflos dabei zusehen, wie ihr Dorf Haus um Haus abgerissen wird. Auf Nachfrage nach einem offiziellen Räumungs- oder Sperrbefehl antwortet ein Soldat: »Der kommt gleich.« Doch ein solches Dokument legen sie zu keinem Zeitpunkt vor.

 

»Die Schule heben wir uns für das nächste Mal auf«

 

Innerhalb weniger Stunden werden neun Häuser zerstört außerdem vier Ställe und zehn Wassertanks. Das Räumkommando schüttet sechs Höhlen und sieben Brunnen zu und demontiert die einzige Solaranlage des Dorfes – und kappt die Internetverbindung. Nach ein paar Stunden sind 49 Menschen obdachlos, darunter 27 Kinder und Jugendliche. Auch eine hochschwangere Frau ist unter ihnen. »Ich kann doch nicht mit einem Neugeborenen in einem Zelt leben«, sagt sie. »Es ist tagsüber zu heiß und nachts zu kalt.«

 

Nur ein Gebäude verschonen die Bagger zunächst. Auf dem Schulgebäude der Gemeinde ist noch ein Graffito zu erkennen: »Lass mich mein Leben leben!«, steht dort geschrieben. Als sich das Räumkommando zum Abzug aufmacht, wendet sich einer der Soldaten an einen Dorfbewohner und sagte mit einem Augenzwinkern: »Die Schule heben wir uns für das nächste Mal auf.«

 

Noch am selben Tag beginnen die Einwohner von Khilet al Dabe’ gemeinsam mit internationalen und israelischen Aktivisten mit dem Wiederaufbau – ein mühsames Unterfangen. Nicht zuletzt, weil das israelische Militär den Einsatz von Baumaschinen untersagt – jede Arbeit muss also von Hand erledigt werden. Allein das Räumen der Trümmer bis hin zum Bau eines einzigen Hauses dauert etwa einen Monat. Der Wiederaufbau gestaltet sich aber auch wegen des ständigen Drucks der expandierenden israelischen Siedlungen so schwierig.

 

Die Menschen sollen aus dem Dorf gedrängt werden, um die umliegenden Außenposten miteinander zu verbinden

 

Seit der Zwangsabtragung von Khilet al Dabe’ am 5. Mai tauchen täglich Siedler auf, begleitet und geschützt von der israelischen Armee, um die Wiederaufbauarbeiten der Dorfbewohner zu behindern. Immer mit dabei: Bagger. Die Baumaschinen kommen nicht zum Einsaz, sondern sind ein Mittel der psychologischen Kriegsführung. Die Botschaft lautet: Wer hier wieder aufbaut, riskiert, dass alles erneut dem Erdboden gleichgemacht wird. Diese Drohung ist keine leere Geste – sie wird immer wieder Realität.

 

Einer der Einwohner erzählt, dass sein Haus seit dem Jahr 2018 bereits acht Mal zerstört wurde. Und doch, sagt er, habe sich die Lage seit Beginn des Krieges in Gaza noch einmal dramatisch verschärft. In rasantem Tempo errichten bewaffnete Siedler auf den umliegenden Hügelkuppen neue Außenposten – einfache Wohnwagen, Zelte, provisorische Straßen. Die Umzingelung des Dorfes ist weit mehr als bloße Machtdemonstration. Beinahe täglich dringen bewaffnete Siedler ein, bedrohen die Bewohner, und oft folgen den Worten auch Taten. Die gewaltsamen Übergriffe der Siedler erfordern immer wieder auch medizinische Behandlungen.

 

»Zehn israelische Außenposten umzingeln mittlerweile unser Dorf«, konstatiert einer der Bewohner fast beiläufig und beschreibt damit einen handfesten Plan, der hinter der ausufernden Gewalt steht. Die Menschen sollen aus dem Dorf gedrängt werden, um die umliegenden Außenposten miteinander zu verbinden – eine Kette aus provisorischen Strukturen soll Stück für Stück zu einer Siedlung zusammenwachsen. Für Palästinenser ist dort kein Platz mehr vorgesehen.

 

Da das gesamte Gebiet Masafer Yatta seit dem Oslo-II-Abkommen von 1995 zur Zone C gehört, steht sie vollständig unter israelischer Verwaltungs- und Sicherheitskontrolle. Schutz könnten somit einzig die israelischen Sicherheitskräfte bieten – doch den verwehren sie den Dorfbewohnern in den meisten Fällen. Das Oslo-II-Abkommen hat das Westjordanland in drei Verwaltungszonen aufgeteilt: Zone A (18 Prozent) steht offiziell unter palästinensischer Selbstverwaltung und bildet das Kernland der Palästinensischen Autonomiebehörde. Doch selbst hier behält Israel in vielen Bereichen das letzte Wort. Zone B (22 Prozent) unterliegt auf dem Papier einer gemeinsamen Kontrolle, wird in der Praxis jedoch weitgehend von der israelischen Armee beherrscht. Zone C, zu der auch Masafer Yatta gehört, umfasst fast 60 Prozent des Westjordanlands. Hier übt Israel mit Verweis auf Sicherheitsinteressen uneingeschränkte militärische, zivile und rechtliche Kontrolle aus.

 

In den ersten drei Monaten des Jahres 2025 genehmigten die israelischen Behörden mehr Baupläne für Siedlungen auf palästinensischem Land als im gesamten Jahr zuvor

 

Einer der Einwohner erinnert sich an einen jener Abende zurück, an denen bewaffnete Siedler in das Dorf eindrangen und seine Familie bedrohten. In seiner Verzweiflung habe er bei der israelischen Polizei angerufen und um Hilfe gefleht. »Die haben mir erwidert, dass sie nicht die Polizei der Palästinenser sind.« Unter Tränen berichtet er, was dieser Moment für ihn als Vater bedeutete: »Mein Kind soll sich darauf verlassen können, dass ich ihn beschützen kann. Aber wenn die Siedler anrücken, alles zerstören, uns bedrohen und ich nichts tun kann, dann wird mein Kind in Angst und Unsicherheit aufwachsen.«

 

Eben diese ständige Unsicherheit zu schaffen, ist die Methode, die letztlich zur Landenteignung führen soll. Durch psychologischen Terror und unter Androhung physischer Gewalt sollen Palästinenser dazu gebracht werden, ihr Land zu verlassen, damit noch mehr Siedlungen errichtet werden. Und diese Siedlungen sind Teil eines gezielten Projekts der Landnahme. Mit jeder neuen Parzelle, jedem Wohnwagen, wird palästinensisches Leben weiter verdrängt – systematisch, ideologisch unterfüttert und oft unter dem Deckmantel religiöser Legitimation. Nicht zuletzt ist es Regierungspolitik: Schon vor Monaten hat etwa der rechtsextreme israelische Finanzminister Bezalel Smotrich unumwunden erklärt, Israels »Souveränität« im Jahr auf das gesamt Westjordanland auszudehnen, oder mit anderen Worten: Das Gebiet vollständig zu annektieren.

 

Deswegen wächst die Zahl israelischer Siedlungen, während palästinensische Dörfer systematisch abgerissen werden – unter dem Schutz des israelischen Staatsapparates. In den ersten drei Monaten des Jahres 2025 genehmigten die israelischen Behörden mehr Baupläne für Siedlungen auf palästinensischem Land als im gesamten Jahr zuvor. Und im März 2025 allein beschloss die Regierung Netanyahu die nachträgliche Legalisierung von dreizehn weiteren Siedlungen – ein Schritt, der nicht nur auf eine schleichende Normalisierung hinweist, sondern auch das faktische Ende der Zweistaatenlösung markiert.


*Die von der Autorin befragten Dorfbewohner wollten nicht namentlich genannt werden.

Von: 
Sherin Kulitz

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