Lesezeit: 12 Minuten
Nachkriegsordnung in Gaza

Wer die Macht in Gaza übernimmt

Essay
Nachkriegsordnung in Gaza

In der internationalen Politik diskutiert man derzeit verschiedene Szenarien für die Zukunft von Gaza. Wie realistisch sie sind und wohin sie führen.

Mit Blick auf Gazas Zukunft werden derzeit vier Szenarien diskutiert. Allen gemeinsam ist, dass sie unrealistisch mit den Herausforderungen der Nachkriegsrealität umgehen. Einige sind Ausdruck des Wunschdenkens von Parteien, die vor allem ihre eigenen Interessen im Blick haben. Andere sind das Ergebnis intellektueller Gedankenspiele und ignorieren dabei bestimmte Voraussetzungen, die aber notwendig sind, um ein Mindestmaß an Erfolg zu gewährleisten. Um folgende Szenarien geht es:

 

Szenario #1: Die Hamas behält die Regierungsgewalt

 

Eine Wunschvorstellung, die auch von Teilen der Hamas selbst gehegt wird, ist, dass die Verwaltung, die Gaza bis zum 7. Oktober 2023 regiert hat, nach dem Ende des Krieges wieder die Kontrolle übernimmt. Es ist offensichtlich, dass dieses Szenario aus der Sicht lokaler, regionaler und internationaler Akteure zum Scheitern verurteilt ist.

 

Der Hauptgrund dafür ist die Unfähigkeit der derzeitigen Regierung, auf die enormen Bedürfnisse des Gazastreifens zu reagieren. Unter den gegenwärtigen und zukünftigen politischen Realitäten wird eine reine Hamas-Administration nicht über die notwendigen Ressourcen oder Kooperationsvereinbarungen mit der internationalen Gemeinschaft verfügen, um diese Anforderungen zu bewältigen.

 

Auch Ägypten und Katar werden höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein, mit einer solchen Führung zusammenzuarbeiten. Und natürlich ist es nach den Anschlägen vom 7. Oktober undenkbar, dass Israel einer Hamas-Regierung erlauben würde, erneut die Kontrolle über den Gazastreifen zu übernehmen.

 

Szenario #2: Fatah übernimmt die Regierungsgewalt

 

Eine von der Fatah geführte Verwaltung des Gazastreifens ohne Unterstützung der anderen Fraktionen, einschließlich der Hamas, des Islamischen Dschihad, kleinerer PLO-Fraktionen und lokaler Würdenträger, würde – sollte sie dennoch durchgesetzt werden – mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Aufständen und möglicherweise sogar zu einem Bürgerkrieg führen.

 

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) verfügt über rund 38.000 Mitarbeiter im zivilen und Sicherheitssektor. Der Mangel an verfassungsmäßiger Legitimität, verbunden mit der Erzwingung einer politischen Einheit nach dem Krieg, würde zweifellos mit einem Aufstand der Überreste des militärischen Flügels der Hamas, des Islamischen Dschihad und möglicherweise anderer Fraktionen beantwortet werden.

 

Ein hypothetisches Szenario, in dem die PA mit Unterstützung der israelischen Armee nach Gaza zurückkehrt, würde wahrscheinlich die internen Konflikte so weit verschärfen, dass der Konflikt mit Israel eher noch verlängert würde.

 

Szenario #3: Multinationale Truppe und politische Übergangsautorität

 

Einige westliche Thinktanks schlagen die Entsendung einer multinationalen Schutztruppe und die Einsetzung einer Übergangsregierung zur Verwaltung des Gazastreifens vor. Dahinter steht die gut gemeinte Absicht, nach einer Übergangsphase die Schaffung einer umfassenden, legitimen und effizienten palästinensischen Einheit zu unterstützen. Bevor ein solcher Ansatz jedoch ernsthaft in Erwägung gezogen werden kann, müssen eine Reihe strategischer und taktischer Herausforderungen bewältigt werden.

 

Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, dass der Konsens zwischen der politischen Führung Palästinas und der Opposition, einschließlich der Hamas, darin besteht, dass eine multinationale Truppe das Westjordanland, Ostjerusalem und den Gazastreifen unter einem einheitlichen Mandat abdecken sollte. Es scheint jedoch unvorstellbar, dass die gegenwärtige oder eine künftige israelische Regierung einer solchen Vereinbarung zustimmen würde.

 

Und welcher Staat würde eine solche Truppe stellen, solange keine Aussicht auf eine politische Lösung des Gesamtkonflikts besteht? Zudem haben verschiedene Gruppierungen, darunter auch die Hamas, wiederholt erklärt, dass jede Truppe, die ohne Absprache im Gazastreifen stationiert würde, als Besatzungsmacht betrachtet werden würde.

 

Darüber hinaus herrschen unterschiedliche Vorstellungen über das Mandat einer solchen Mission. Israel auf der einen Seite fordert, dass sie der Friedenserzwingung dienen und die Entwaffnung der Hamas und anderer Gruppen umsetzen soll. Die palästinensische Seite hingegen denkt an eine Schutztruppe, die sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland stationiert wird und die Palästinenser letztlich auf dem Weg zu Staatlichkeit begleitet. Diese gegensätzlichen Positionen halten potenzielle Vermittler davon ab, diesen Ansatz für die Nachkriegsordnung im Gazastreifen zu unterstützen.

 

Szenario #4: Israelische Militärherrschaft und Zivilverwaltung

 

Diese Vorstellung der israelischen Regierung basiert auf der wahrgenommenen Sicherheitsbedrohung aus dem Gazastreifen für den Fall, dass sich die IDF zurückzieht. Die Aufrechterhaltung der militärischen Kontrolle soll es den israelischen Streitkräften deshalb ermöglichen, dort weiter zu operieren.

 

Zu diesem Zweck hat die israelische Armee in der Nähe von Rafah und im Süden des Gazastreifens ad hoc militärische Anlagen und Verbindungswege errichtet, die das Gebiet in zwei große Blöcke teilen. Hinzu kommt die vollständige Besetzung der Grenze zwischen Gaza und Ägypten, des Philadelphi-Korridors, und die Errichtung des militärischen Außenpostens Netzarim südlich von Gaza-Stadt.

 

Aus palästinensischer Sicht werden dieser Plan und alle Formen der Aufrechterhaltung der israelischen Militärbesatzung im Gazastreifen zu einer lang anhaltenden Konfrontation führen. Nüchtern betrachtet würde dieser Plan, sollte er umgesetzt werden, weder kurz- noch mittelfristig Stabilität bringen. Welche anderen Modelle bieten sich angesichts der Unzulänglichkeiten dieser vier Szenarien an? Ein Drei-Phasen-Plan könnte nach dem Ende des Krieges und dem vollständigen Abzug der israelischen Truppen schrittweise Stabilität bringen.

 

Die erste Phase würde die Bereitstellung dringend benötigter Soforthilfe und Notunterkünften, die Räumung von Trümmern und Blindgängern sowie die Lieferung humanitärer Hilfsgüter aller Art umfassen. Dabei sollte die internationale Gemeinschaft die Arbeit lokaler Kräfte, etwa kommunaler Notfallkomitees, unterstützen.

 

In der zweiten Phase, die parallel oder unmittelbar danach umgesetzt werden sollte, würde die PA eine technokratische und parteilose Regierung bilden, die die Westbank und den Gazastreifen unter ihrer Verwaltung vereinigt. Diese Phase, die sich mittelfristig über ein bis zwei Jahre erstrecken würde, müsste sich mit einer Vielzahl von Stabilitäts- und Sicherheitsfragen befassen.

 

Die PA hat 500 Sicherheitskräfte für die Kontrolle über die Grenzübergänge Erez und Rafah

 

Die palästinensische Verwaltung müsste im Einvernehmen mit allen Akteuren vor Ort, einschließlich der Überreste bewaffneter Gruppen, die Befugnisse zur Durchsetzung des Rechts aushandeln. Nur so kann sichergestellt werden, dass es nicht zu einem Aufstand kommt. In dieser Phase geht es also darum, eine Übergangsverwaltung für Gaza zu schaffen, die aber eine administrative Einheit mit dem Westjordanland bildet. In der dritten Phase sollte eine Friedenskonferenz den israelisch-palästinensischen Konflikt als Ganzes angehen.

 

Ziel dieser internationalen Bemühungen muss die Schaffung eines palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 sein. Parallel zu dieser Phase müssen Parlamentswahlen stattfinden, um die Bildung einer repräsentativen palästinensischen Regierung zu ermöglichen. Diese Phase sollte nicht länger als drei bis vier Jahre dauern Es ist wichtig anzumerken, dass Ad-hoc-Lösungen, die auf der Beauftragung privater Auftragnehmer beruhen, langfristig nicht tragfähig sind. Während solche Dienste die Hilfs- und Wiederaufbaubemühungen internationaler Organisationen unterstützen können, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie die Art von Regierungs- und Sicherheitsinstitutionen ersetzen können, die zur Erreichung der strategischeren Ziele der langfristigen Stabilität geschaffen werden müssen.

 

Frühere Mechanismen, die nach dem Krieg von 2014 eingesetzt wurden – einschließlich des Gaza Reconstruction Mechanism (GRM) – haben nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht. So gelang es nicht, wie eigentlich geplant, ausreichend Baumaterialien für den vollständigen Wiederaufbau der zerstörten zivilen Infrastruktur bereitzustellen. Gleichzeitig konnte der Schmuggel von Waffen und Munition nicht verhindert werden.

 

Bei der künftigen Planung des Wiederaufbaus müssen diese und andere damit zusammenhängende Fragen in einem strategischeren Rahmen behandelt werden. Angesichts dieser Umstände haben die Sicherheitsorgane der PA einen Plan mit dem Titel »Rettung des Gazastreifens« ausgearbeitet, der auf der Verlegung von etwa 17.000 Beamten basiert, die seit dem Hamas-Putsch 2007 außer Dienst waren. Darüber hinaus verfügt die PA nach eigenen Angaben über etwa 500 Sicherheitskräfte, die bereit sind, die Kontrolle über die Gaza-Seite der Grenzübergänge Erez und Rafah zu übernehmen.

 

Der Plan sieht auch die Rekrutierung neuer Polizisten aus dem Gazastreifen sowie Verstärkungen aus dem Westjordanland vor, um den Pool zu vergrößern und das gesamte Gebiet abzudecken. Hochrangige Sicherheitsbeamte der PA sind der Ansicht, dass ein Mindestmaß an Koordination mit der Hamas und anderen Fraktionen über Ägypten und Katar als Co-Sponsoren erforderlich ist, damit der Plan Aussicht auf Erfolg hat.

 

Nach Angaben der PA wird dieser Plan – zumindest war das der Stand im Herbst 2024 – vom US-Sicherheitskoordinator für Israel und die Palästinensischen Gebiete logistisch unterstützt. Dazu gehört die Bereitstellung von Fahrzeugen, Gewehren und anderer Ausrüstung. Sicherheitsbeamte der PA gehen davon aus, dass ein Drittel ihrer alten Truppen in Gaza einsatzbereit ist. Das zweite Drittel müsste umgeschult und der Rest vor allem aus Altersgründen ersetzt werden. Zuletzt hat die PA im Jahr 2002 Personal aus dem Gazastreifen rekrutiert.

 

Die palästinensische Seite denkt an eine Schutztruppe für den Gazastreifen und das Westjordanland

 

Eine weitere Möglichkeit, auf die sich die PA offenbar vorbereitet, ist die Entsendung einer multinationalen arabischen Truppe unter dem Mandat des UN-Sicherheitsrates für eine Übergangszeit von ein bis drei Jahren. Sie hätte den Auftrag, die Sicherheitskräfte der PA zu unterstützen und zu beraten, aber kein aktives Mandat. Eine solche Mission würde die Sicherheitskräfte der PA auch beim Wiederaufbau der zerstörten Sicherheitsinfrastruktur, wie Garnisonen und Polizeistationen, zu unterstützen.

 

Diese beiden Visionen sind in mehrfacher Hinsicht voneinander abhängig. Es wäre von entscheidender Bedeutung, einen logistischen und administrativen Plan zur Vorbereitung des Einsatzes der Sicherheitskräfte der PA in Gaza auszuarbeiten. Darüber hinaus ist die Stationierung einer multinationalen arabischen Truppe in Gaza ebenso wichtig für die Planung und Umsetzung. Allerdings muss der Sicherheitsplan, wie hochrangige PA-Beamte einräumen, eine politische Komponente mit zwei Aspekten enthalten.

 

Der erste ist externer Natur und betrifft die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft – insbesondere gegenüber der israelischen Regierung, die sich weiterhin weigert, die Sicherheitskräfte der PA im Gazastreifen zu akzeptieren. Der andere bezieht sich auf die Konsensbildung innerhalb des Gazastreifens, bevor Truppen dorthin entsandt werden. Eines der größten Risiken wäre die Eskalation von einem Kriegszustand zwischen Israel und den bewaffneten Fraktionen im Gazastreifen hin zu einem Bürgerkrieg oder einem Aufstand gegen die Sicherheitskräfte der PA.

 

PA-Beamte kündigten außerdem an, dass künftige Regelungen zur Grenzkontrolle auf dem Abkommen über Zugang und Bewegungsfreiheit von 2005 basieren sollten. In der Präambel des Abkommens heißt es, es solle »die friedliche wirtschaftliche Entwicklung fördern und die humanitäre Lage vor Ort verbessern. Es stellt die Verpflichtungen der israelischen Regierung und der Palästinensischen Autonomiebehörde dar.« Dennoch weigert sich die Regierung Netanyahu, das Abkommen als Grundlage für den Einsatz von Sicherheitskräften der PA im Gazastreifen oder an den Grenzübergängen umzusetzen.

 

Aus Sicht der PA sind die Sicherheitsmaßnahmen an den Grenzübergängen untrennbar mit der allgemeinen Situation im Gazastreifen verbunden. Bereits im vergangenen Jahr weigerte sich die PA daher beispielsweise, an bestimmten Vorschlägen zur Verwaltung des Grenzübergangs Rafah mitzuarbeiten, solange die israelische Armee dort noch präsent ist. Die palästinensische Führung hat beschlossen, dass die PA erst dann an diesen Grenzübergängen stationiert wird, wenn sich die IDF vollständig aus dem Gazastreifen zurückgezogen hat.

 

Der Weg zu einer stabilen Regierung im Gazastreifen führt nur über eine innerpalästinensische Einigung. Ein solches Abkommen sollte auch von den regionalen Akteuren, insbesondere Ägypten und Katar, unterstützt und von den USA und der EU zumindest stillschweigend akzeptiert werden. Ein innerpalästinensisches Abkommen wird zwangsläufig einen Konsens über den Einsatz der Sicherheitskräfte der PA und die Demobilisierung bewaffneter Gruppen erfordern. Obwohl dieses Thema in der Vergangenheit im Rahmen des innerpalästinensischen nationalen Dialogs angesprochen wurde, ohne dass eine Einigung erzielt werden konnte, erfordern die Realitäten nach dem Krieg einen fruchtbareren Ansatz in dieser heiklen Frage.

 

Frühere Versuche, das Gewaltmonopol unter einer einheitlichen, von keiner Fraktion abhängigen Führung zu vereinen, sind gescheitert. Dies sollte jedoch eine Priorität sein, um langfristige Stabilität zu gewährleisten. Denn das Fehlen einer gemeinsamen Vision der palästinensischen Parteien würde die israelischen Pläne, die eigene sicherheitspolitische Kontrolle über den Gazastreifen auf Jahre hinaus zu zementieren, weiter begünstigen.


Ibrahim Dalalsha ist Gründer und Direktor des Horizon Center for Political Studies and Media Outreach mit Sitz in Ramallah. Zuvor war er zwei Jahrzehnte lang als leitender politischer Berater im US-Generalkonsulat in Jerusalem tätig.

Von: 
Ibrahim Dalalsha

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.