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Buch von Isabelle Neulinger

Wenn aus Liebe Hass wird

Feature

Aus dem weltoffenen Schai wird ein ultra-orthodoxer Hardliner. Isabelle Neulinger flieht vor ihm mit dem gemeinsamen Sohn in die Schweiz. Dort beginnt ein jahrelanger Rechtsstreit. Nun hat die mutige Frau ihre Geschichte aufgeschrieben.

Im Oktober 1999 reist Isabelle Neulinger mit einem One-Way-Ticket nach Israel. Wie alle Einwanderer besucht sie einen Sprachkurs, muss sich um eine Sozial- und Krankenversicherung kümmern, den Führerschein machen, bezieht eine schicke Wohnung in Tel Aviv – und erhält eine Gasmaske von den Behörden. Für den Notfall. Doch richtig angekommen ist die junge Frau aus der Schweiz, die für einen internationalen Konzern in den Azrieli-Türmen der Mittelmetropole arbeitet, als sie Schai kennenlernt, übersetzt: »Geschenk«.

 

Er scheint der Traummann zu sein, arbeitet als Sportlehrer und nebenher als Model für Werbekampagnen. Dazu hat er auch noch eine Nebenrolle in der israelischen Kultserie »Injan schel Zman – Eine Frage der Zeit«. Er ist ihr Romeo, sie seine Julia – die beiden heiraten in Pki’in, einem idyllischen Nest in Nordgaliläa an Lag ba-Omer und wenig später noch einmal im Rahmen der Familie auf einem kleinen Landsitz nördlich von Tel Aviv. Das Glück scheint perfekt.

 

Vom weltoffenen Womanizer zum religiösen Hardliner

Er war nicht gläubig, als Neulinger ihn kennengelernt hatte, nie in einer Synagoge gewesen, auch eine Bar Mitzwa hatte er nicht gehabt. Dann geht Schai in die Synagoge ihres Viertels – und das Unheil nimmt seinen Lauf. In einem erst langsamen, dann rasanten Radikalisierungsprozess wandelt sich der weltoffene Womanizer zum religiösen Hardliner. Isabelle Neulinger hat nun über das Erlebte in ihrem Buch »Meinen Sohn bekommt ihr nie. Flucht aus dem gelobten Land« geschrieben. Es ist eine aufwühlende, eine traurige Geschichte.

 

Erst bittet er seine Frau, am Schabbat nicht mehr zu rauchen und keinen Strom zu nutzen sowie die rituellen Reinheitsgesetze des Ehe- und Frauenlebens, die »Kaschrut«, zu befolgen. Dann eine Fehlgeburt. Schließlich wird Noam geboren. Und Schai ist nicht dabei, seine blutende Ehefrau für ihn unrein. Nach drei Tagen lässt er sich erst blicken. Keine Berührung, keinen Kuss. Nichts. Das Neu-Mitglied der Chabad-Lubawitsch-Bewegung ist Isabelle Neulinger zum fremden Mann geworden.

 

Das Martyrium beginnt

 

Er sitzt abends nackt im Ehebett – nur mit seinem Gebetsschal und dem Tzitzit-Hemd bekleidet. Eine bizarre Vorstellung für seine säkulare Frau, die zusieht, wie aus einer Kippa auf dem Kopf von Schai ein Filzhut wird, dann der schwarze Mantel der Chassidim und er erklärt, ihre Muttermilch sei nicht koscher, da er nicht wisse, was sie außerhalb esse. Isabelle Neulinger entscheidet sich für die Scheidung, obwohl das nach rabbinischem Recht kompliziert ist und der Zustimmung des Mannes bedarf. Was folgt, ist schlimmer, als das, was war. Ein Martyrium. Mit ihrem Anwalt Igal versucht sie das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu erlangen, Unterhaltszahlungen zu beantragen und ein Ausreiseverbot zu erlangen, schließlich könnte Schai versuchen, das Kind nach New York in die Lubawitsch-Gemeinschaft zu bringen.

 

Morddrohungen vom eigenen Mann

 

Als Neulinger ihm eröffnet, dass sie sich scheiden lassen will, beginnt der Krieg. Aus Liebe ist Hass geworden. Binnen weniger Minuten – und nach einem Telefonat mit seinem Rabbiner – steht die Polizei vor der Tür, nimmt alle zum Verhör mit auf die Wache. Doch dem nicht genug: Ein zweites Kind kündigt sich an – und soll abgetrieben werden. Schai droht ihr mit der Hölle auf Erden. Beide leben noch unter einem Dach, in der Wohnung, die einst das Liebesnest der jungen Familie hatte sein sollen.

 

Dem Antrag auf räumliche Trennung wird schließlich stattgegeben, Isabelle Neulinger schläft, sich eingeschlossen und mit einem Messer unter dem Kopfkissen, mit ihrem Sohn im Ehebett, der Noch-Mann im Gästezimmer. Dann versucht er die Tür einzutreten und droht mit Mord. Der bevorstehende Auszug ist zu viel für ihn. Sie zeigt ihn wegen Morddrohung an.

 

Flucht über den Sinai in die Schweiz

 

Schai muss fortan einhundertfünfzig Meter Abstand halten, seinen Sohn – der gegen seinen Willen in einem säkularen Kindergarten von einem Schwulen und einer Frau mit afrikanischen Wurzeln erzogen wird – darf er nur im Beisein von einem Sozialarbeiter sehen. Die Vergeltung folgt: Isabelle Neulingers Autoreifen werden immer wieder zerstochen, sie von zwei Ultra-Orthodoxen auf Schritt und Tritt verfolgt. Dann das Wunder: Schai stimmt der Scheidung zu. Isabelle Neulinger ist frei. Ihr Sohn indes nicht.

 

Denn der einst gestellte Antrag, dass Noam das Land nicht verlassen darf, gilt bis 2021. Bis er volljährig sein wird. Eine endlos lange Zeit. Sie schmiedet einen Fluchtplan, zahlt einem Schleuser 30.000 US-Dollar und flieht in einer Nacht- und Nebelaktion über die ägyptische Grenze außer Landes. Mit ihrem Sohn Noam. Das ist im Jahr 2005. Doch sicher sind die beiden im schweizerischen Lausanne nicht.

 

Gefangen im eigenen Land

 

Der mittlerweile wieder bereits zum zweiten Mal geschiedene Schai – er hat seine schwangere Frau krankenhausreif geschlagen –  hat einen Privatdetektiv auf sie angesetzt, eine Anwältin engagiert, eine Expertin für internationales Privatrecht. Neulinger wird es zum Verhängnis, dass sie versucht hatte, fristgerecht einen neuen Schweizer Pass für sich und ihren Sohn zu beantragen – doch seit ihrer Flucht aus Israel wurde sie von Interpol gesucht. Kindesentführung. Die Schweizer Behörden informieren Interpol, diese wiederum die israelischen Behörden. Das Friedensgericht des Bezirks Lausanne verhindert die Ausstellung der Pässe und verbietet es der jungen Mutter, die Schweiz zu verlassen. Sie ist gefangen im eigenen Land und den Mühlen der Bürokratie.

 

Showdown vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

 

Israel verlangt Noams sofortige Rückführung. Schais Anklage wird indes vor dem Gericht in Lausanne abgewiesen, er wendet sich an die nächste Instanz: das Kantonsgericht; er selbst ist mittlerweile ein drittes Mal verheiratet und hat weitere drei Kinder in die Welt gesetzt. Die Schweizer Justiz gibt Neulinger ein weiteres Mal Recht. Doch Schais Anwältin kämpft weiter für ihren Mandanten. Im Sommer 2007 kommt es zu einer neuerlichen Verhandlung. Dieses Mal vor dem Bundesgericht. Vier von fünf Richtern sprechen sich für die Rückkehr Noams nach Israel aus.

 

Auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verliert Neulinger. Erst im Herbst 2009 bekommt sie Recht. Vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Nach Jahren der Unsicherheit, der Entbehrungen und Demütigungen lebt Isabelle Neulinger mittlerweile mit ihrem Sohn rechtlich einwandfrei in der Schweiz. Diese mutige Frau, die religiösem Wahn entgegengetreten ist, um ihr Kind wie eine Löwin gekämpft hat und der Welt nun diesen traurigen Thriller geschrieben hat.


Meinen Sohn bekommt ihr nie

Flucht aus dem gelobten Land

Isabelle Neulinger

Nagel & Kimche, 2013

206 Seiten, 17,90 Euro

Von: 
Dominik Peters

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