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Wiederaufbau und Finanzierung in Gaza

Ein Treuhandfonds für Gaza

Analyse
von Nur Arafah
Wiederaufbau und Finanzierung in Gaza
EU Civil Protection and Humanitarian Aid

Gaza ist in einem Zyklus aus Zerstörung und Wiederaufbau gefangen. Ein Sonderkomitee könnte dabei helfen, dem Teufelskreis zu entkommen.

Frühere Wiederaufbaubemühungen in Gaza waren durch systemische Mängel gekennzeichnet. So hat der vorherrschende unpolitische Top-down-Ansatz die Schaffung eines ineffizienten Wiederaufbaumechanismus begünstigt, der letztlich nur dazu diente, die israelische Kontrolle zu stärken. Diese Defizite, gepaart mit dem erschütternden Ausmaß der Zerstörung, dem Fehlen klarer Regierungsstrukturen und der Ungewissheit, wann und ob dieser Krieg überhaupt zu Ende gehen wird, stellen enorme Hindernisse für einen effektiven Wiederaufbau dar.

 

Gerade deshalb ist es wichtig, eine neue und effektivere Strategie zu entwickeln. Dieser Ansatz sollte den Wiederaufbau als vielschichtigen Prozess mit physischen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Dimensionen neu denken, der lokale Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellt, Strategien auf Mikro- und Makroebene integriert und sich auf den Wiederaufbau lebenswichtiger Systeme wie der Nahrungsmittelproduktion konzentriert, um Gaza wieder auf die Beine zu bringen.

 

Das Versäumnis, die Wiederaufbaubemühungen mit dem Ende der israelischen Blockade und der Gewährung politischer Rechte für die Palästinenser zu verknüpfen, hat nur zu einer Normalisierung der Bedingungen geführt, unter denen die 2,3 Millionen Bewohner des Gazastreifens bereits seit 17 Jahren leiden. Das Fehlen eines politischen Prozesses hat Gaza in einem Teufelskreis aus Krieg, Waffenstillstand und gescheitertem Wiederaufbau gefangen gehalten.

 

Der Mechanismus für den Wiederaufbau des Gazastreifens (GRM) hat sich als gescheiterter Ansatz erwiesen

 

Der zweite Faktor für das Scheitern ist der sogenannte Gaza Reconstruction Mechanism (GRM), der nach dem Krieg 2014 als trilaterales Abkommen zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), der israelischen Regierung und den Vereinten Nationen (UN) ins Leben gerufen wurde. Der GRM war als befristete Maßnahme gedacht, um den Wiederaufbau des Gazastreifens zu beschleunigen. Dazu sollte die Einfuhr von Gütern harmonisiert werden – offiziell mit dem Ziel, den Weg für die Aufhebung der Belagerung zu ebnen. Im Rahmen des Abkommens überwachen die UN in Absprache mit der PA die Lieferungen von Baumaterialien nach Gaza und dokumentieren sie in einer Datenbank. Israel kann auf diese Daten zugreifen und entscheiden, welche Materialien eingeführt werden dürfen.

 

Anstatt den Wiederaufbau zu beschleunigen, hat der GRM ihn behindert und es Israel ermöglicht, die Einfuhr von Baumaterialien nach Gaza stark einzuschränken. Der GRM hat zudem einen hoch bürokratischen und ineffizienten Prozess etabliert. Bereits 2015 schätzte die NGO Oxfam, dass der Wiederaufbau von Schulen und Krankenhäusern in Gaza bis zu einem Jahrhundert dauern könnte, wenn die israelischen Einfuhrbeschränkungen für Baumaterialien nicht aufgehoben würden. So waren selbst drei Jahre nach dem Krieg von 2014 insgesamt 43 Prozent der zerstörten oder schwer beschädigten Häuser noch nicht wieder aufgebaut.

 

Der GRM ist außerdem für israelische Unternehmen ein wirtschaftlich profitables Arrangement. Israel hat seine Kontrolle genutzt, um sicherzustellen, dass die meisten Materialien von israelischen Unternehmen stammen und der eigenen Wirtschaft zugutekommen. Zum Beispiel hat die Zementfirma Nesher, die sowohl auf dem israelischen als auch auf dem palästinensischen Markt eine Monopolstellung innehat, beträchtliche finanzielle Gewinne durch GRM-Verträge erzielt.

 

Der dritte kritische Fehler der bisherigen Wiederaufbaubemühungen ist ihr insgesamt externer Top-down-Ansatz, der den Beitrag der betroffenen Bevölkerung im Gazastreifen weitgehend ignoriert. Ein Paradebeispiel dafür war der Krieg von 2014, als lokale NGOs und Verwaltungseinheiten in Gaza sowohl vom GRM als auch breiteren Diskussionen über Wiederaufbaustrategien ausgeschlossen wurden. Damit wurde der Bevölkerung das Gefühl der Eigenverantwortung genommen. Zudem wurde versäumt, die Erfahrungen und das Know-how der Menschen zu nutzen, die mehrere Zyklen der Zerstörung und des Wiederaufbaus durchlebt haben.

 

Weil frühere Investitionen in Gaza durch den Krieg zerstört wurden, zögern westliche Staaten nun, zusätzliche Mittel für den Wiederaufbau bereitzustellen

 

Auch die große Kluft zwischen Zusagen und tatsächlichen Auszahlungen untergräbt die bisherigen Bemühungen. So sagten die Geber nach dem Krieg 2014 zwar umgerechnet 5,1 Milliarden Euro für die Palästinensischen Gebiete zu, davon 3,3 Milliarden für Gaza. Bis Juli 2017 wurden jedoch nur 53 Prozent der Finanzierungszusagen erfüllt und damit nur 18 Prozent des Wiederaufbaubedarfs gedeckt. Von den nicht erfüllten Zusagen entfallen 88 Prozent auf die Golfstaaten Katar, Saudi-Arabien, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrain. Bis Juli 2017 hatten diese Länder 76,4 Prozent der zugesagten Gelder nicht bereitgestellt. Als 2021 ein zweiwöchiger Krieg ausbrach, wurden daher immer noch Anstrengungen unternommen, um Mittel für die Beseitigung der Schäden aus dem Krieg von 2014 zu beschaffen.

 

Da frühere Investitionen in Gaza durch den Krieg zerstört wurden, zögern westliche Staaten nun, zusätzliche Mittel für den Wiederaufbau bereitzustellen. Arabische Staaten wie Saudi Arabien, die VAE und Ägypten, die die Hamas wegen ihrer Verbindungen zur Muslimbruderschaft ablehnen, glauben, dass eine Verzögerung der Zahlungen die Gruppe schwächen, den Widerstand gegen sie stärken und möglicherweise die politische Ordnung von vor 2007 wiederherstellen könnte. Katar hingegen, das enge Beziehungen zur Hamas unterhält, hat unter den Ländern des Golf-Kooperationsrates (GCC) mit umgerechnet 205 Millionen Euro bis Juli 2017 die größte Summe für den Wiederaufbau des Gazastreifens bereitgestellt, liegt aber dennoch weit unter dem Betrag von rund einer Milliarde Euro, zu dem sich das Emirat verpflichtet hatte.

 

In den ersten 200 Tagen des Krieges hat die israelische Armee mehr als 70.000 Tonnen Sprengstoff über dem Gazastreifen abgeworfen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen könnte allein die Räumung der Trümmer bis zu 15 Jahre dauern und bis zu umgerechnet 570 Millionen Euro kosten. Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza hat zu einer vielschichtigen Krise mit weitreichenden Folgen geführt. Die Infrastruktur in Gaza wurde systematisch zerstört – Teil des offensichtlichen Plans Israels, Gaza unbewohnbar zu machen.

 

Diese großflächige Zerstörung hat einen Gesundheitsnotstand ausgelöst. Der Zusammenbruch der Abfall- und Abwasserentsorgung in Verbindung mit dem Mangel an sauberem Wasser und persönlicher Hygiene hat unter anderem den Boden für den Ausbruch von Polio und Hepatitis bereitet. Die Zerstörung landwirtschaftlicher Nutzflächen und die Kürzung von Hilfslieferungen bedrohen die Ernährungssicherheit und haben Gaza an den Rand einer Hungersnot gebracht.

 

Was, wenn dieser Krieg nie endet, sondern zwischen Phasen hoher und niedrigerer Intensität wechselt?

 

Auch die langfristigen Auswirkungen des Krieges sind verheerend. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) schätzt, dass der Krieg wahrscheinlich sieben Jahrzehnte Fortschritt zunichte machen und die Gesundheits-, Bildungs- und Wirtschaftsindikatoren im Gazastreifen auf den Stand von 1955 zurückwerfen wird. Darüber hinaus wird das psychologische Trauma nachhaltige Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und Entwicklung der Bevölkerung über Generationen hinweg haben. Die UNDP schätzt, dass der Wiederaufbau im optimistischsten Szenario bis 2040 dauern könnte.

 

Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der Art der Kriegsführung. Traditionelle Wiederaufbaumodelle gehen in der Regel von einem klaren Ende der Feindseligkeiten aus. Die Situation in Gaza stellt jedoch ein weitaus komplexeres Szenario dar. Die grundlegende Frage lautet: Was passiert, wenn dieser Krieg nie endet, sondern lediglich zwischen Phasen hoher und niedriger Intensität wechselt? Dieses Szenario erfordert ein Überdenken des Zeitplans für den Wiederaufbau.

 

Soll auf das Ende des Krieges gewartet werden? Wenn nicht, wie kann der dringende Bedarf gedeckt werden, während die Feindseligkeiten weitergehen? Welche Risiken birgt es, in Zeiten relativer Ruhe mit dem Wiederaufbau zu beginnen? Und vor allem: Sind die internationalen Geber bereit, ein solches Unterfangen zu unterstützen, solange der Gazastreifen ein Kriegsgebiet bleibt? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist entscheidend für die Entwicklung eines effektiven Ansatzes für den Wiederaufbau in Gaza, auch wenn dies einen Paradigmenwechsel erfordert.

 

Der Wiederaufbau erfordert einen breiteren politischen und institutionellen Rahmen mit klar definierten Mechanismen. Doch wie wird dieser Rahmen in Zukunft aussehen? Obwohl verschiedene Vorschläge auf dem Tisch liegen – Verwaltung durch regionale Mächte, eine multinationale Truppe, lokale Notabeln, Exilpolitiker oder die PA –, bleibt die zukünftige institutionelle Landschaft Gazas höchst ungewiss. Diese Ungewissheit führt zu einer noch drängenderen Sorge: Was, wenn es in Gaza überhaupt keine funktionierende Regierungsführung mehr gibt?

 

Dieses Gremium würde eng mit internationalen Geberorganisationen zusammenarbeiten und sich aktiv an gebergeführten Initiativen beteiligen

 

Grundsätzlich sollten Israel und die USA für die Verwüstung des Gazastreifens zur Rechenschaft gezogen werden und Reparationszahlungen leisten. Realistischerweise ist jedoch zu erwarten, dass andere Länder, insbesondere die GCC-Staaten, die finanzielle Last tragen werden. Diese haben jedoch in der Vergangenheit ihre Zusagen nicht eingehalten, und die Skepsis der internationalen Gemeinschaft ist angesichts der wiederholten Zerstörung finanzierter Projekte durch Israel nach wie vor groß. Dieses Muster unterstreicht daher die Notwendigkeit, den Wiederaufbau mit diplomatischem Druck zu flankieren.

 

Die Eckpfeiler einer zukünftigen Wiederaufbaustrategie müssen dringend definiert werden. Zentral ist die politische Dimension. Nachhaltige Entwicklung wird es nicht geben, wenn die Ursachen des Problems nicht angegangen werden. Ohne einen politischen Rahmen laufen Wiederaufbaupläne Gefahr, zu Provisorien zu werden. Dritte Parteien, einschließlich der USA und der EU, sind verpflichtet, die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen und Israel zu zwingen, die Blockade und die Besatzung zu beenden. Nur so kann der Kreislauf von Zerstörung und gescheitertem Wiederaufbau durchbrochen werden, der Gaza in den letzten zwei Jahrzehnten geprägt hat.

 

Im palästinensischen Kontext muss der Wiederaufbau Hand in Hand gehen mit der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Gazastreifen, der Wiederanbindung an die übrigen palästinensischen Gebiete, einem neuen Führungsmodell und einem inklusiven und rechenschaftspflichtigen politischen System, das Palästinenser aller Gesellschaftsschichten repräsentiert. Ebenso wichtig ist die wirtschaftliche Dimension, die eng mit der politischen verknüpft ist. Der Aufbau einer lebensfähigen Wirtschaft in Gaza ist unmöglich, solange das Gebiet unter Blockade steht und vom Westjordanland und der Welt isoliert bleibt.

 

Die vierte Dimension ist sozialer Natur, wird aber oft übersehen. Es muss eine umfassende Strategie entwickelt werden, um die Krise der psychischen Gesundheit anzugehen, die alle Bewohner des Gazastreifens betrifft. Es sollten auch Schritte unternommen werden, um der zunehmenden Atomisierung der palästinensischen Gesellschaft sowohl innerhalb des Gazastreifens als auch zwischen Gaza und dem Rest Palästinas entgegenzuwirken.

 

Diese Sondertöpfe könnten sich auf Bedürfnisse wie Gesundheitsversorgung, Bildung oder Infrastruktur fokussieren

 

Die Menschen in Gaza müssen im Zentrum der institutionellen Architektur eines zukünftigen Wiederaufbauprozesses stehen. Ein Bottom-up-Ansatz ist unerlässlich, um die Eigenverantwortung und Handlungsfähigkeit der Menschen vor Ort zu fördern und sicherzustellen, dass die Bemühungen mit dem lokalen Kontext und den Bedürfnissen vor Ort (insbesondere von gefährdeten Gruppen) im Einklang stehen. Die Einrichtung eines inklusiven palästinensischen Wiederaufbaukomitees ist daher von entscheidender Bedeutung.

 

Dieses Gremium würde an der Gestaltung von Wiederaufbauprojekten mitwirken, eng mit internationalen Geberorganisationen zusammenarbeiten und sich aktiv an Geberinitiativen beteiligen. Es würde ein breites Spektrum palästinensischer Perspektiven repräsentieren und Stakeholder aus dem Gazastreifen einbeziehen, darunter Thinktanks, NGOs, Kommunen, Basisorganisationen, Unternehmer und Wirtschaftsverbände sowie Experten aus anderen Teilen Palästinas und der Diaspora. Dem Komitee würden auch Beamte der PA angehören, die etwa über das Planungsministerium den Wiederaufbau in Gaza leiten, ebenso Vertreter der neuen Regierungsstruktur in Gaza.

 

Die Palästinenser in der Diaspora können ebenfalls eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau spielen, indem sie durch Lobbyarbeit das Bewusstsein für die Herausforderungen in Gaza schärfen und die Einbeziehung von politischen Entscheidungsträgern und internationalen Organisationen vorantreiben. Die Diaspora kann auch einen finanziellen Beitrag leisten, zum Beispiel durch die Einrichtung von Treuhandfonds, die einen transparenten und verlässlichen Mechanismus für den Transfer von Geldern und Ressourcen nach Gaza bieten. Diese speziellen Fonds könnten sich auf verschiedene Bedürfnisse wie Gesundheitsversorgung, Bildung oder Infrastruktur konzentrieren.

 

Ein überarbeiteter Ansatz für den Wiederaufbau würde auch die Zusammenführung von Strategien auf der Makroebene mit einem Ansatz auf der Mikroebene erfordern. Was ist damit gemeint? Während groß angelegte Infrastrukturprojekte unerlässlich sind, ist es wichtig, die Bedürfnisse einzelner Gemeinden nicht aus dem Blick zu verlieren. Durch die Konzentration auf jeweils eine Gruppe von Stadtvierteln würde der Wiederaufbau maßgeschneiderte Interventionen ermöglichen, die unterschiedliche sozioökonomische Strukturen berücksichtigen.

 

Angesichts der extremen Ernährungsunsicherheit im Gazastreifen ist es von größter Dringlichkeit, die Versorgung wiederherzustellen, die Produktion für den lokalen Verbrauch zu fördern und der wachsenden Abhängigkeit von Geberhilfen entgegenzuwirken. Die kleinbäuerliche Produktion muss aufgewertet und nachhaltige Praktiken sollten gefördert werden, um eine produktive Basis für die Wirtschaft zu schaffen. Es ist ein steiniger Weg, aber wir haben die Chance, den Wiederaufbau diesmal besser zu gestalten.


Nur Arafah ist Fellow am Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center in Washington, wo sie das Programm für Politische Ökonomie des Nahen Ostens und Nordafrikas leitet.

Von: 
Nur Arafah

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