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Die Mär von der ungeteilten Stadt

Die Mär von der ungeteilten Stadt

Feature

Israels Versuche, das »Palästinenserproblem« durch immer aufwendigere Unterdrückung zu »lösen«, sind zum Scheitern verurteilt. Denn die Unruhen in Jerusalem könnten sich auch auf das Westjordanland ausweiten.

Immer wieder versetzten palästinensische Attentäter in den vergangenen Wochen Jerusalem in Aufruhr. Die Reaktion auf die furchtbaren, teilweise scheinbar spontanen, Angriffe auf jüdische Israelis war stets eine massive Aufstockung der Sicherheitskräfte, dauerhafte Präsenz an Zugängen zu allen palästinensischen Stadtteilen und teilweise auch die komplette Abriegelung der Viertel, aus denen die jeweiligen Attentäter stammten. Ununterbrochen lärmen Polizeihubschrauber über der Stadt. Überwachungszeppeline fliegen über besonders unruhigen Stadtvierteln.

 

Tränengas liegt in der Luft. Das israelische Narrativ der vereinigten, ewigen Hauptstadt Israels wirkt realitätsferner denn je. Manche Medien sprechen inzwischen von einer »Jerusalem-Intifada«. Denn während weite Teile der Westbank (noch?) ruhig sind, brodelt es in Jerusalem gewaltig. Fast täglich gibt es Angriffe, die es meist jedoch nicht in die internationalen Medien schaffen.

 

Versuche der rechten israelischen Regierung, die Ursache der Gewalt der Palästinensischen Autonomiebehörde zuzuschieben, wirken wie reine Polemik, haben doch die Palästinenser keinerlei Kontrolle in der von Israel annektierten Stadt. Und sind es doch die bewussten Provokationen durch Siedlergruppen, die den »Haram al-Sharif« / Tempelberg betreten – mit vorhersehbarer Konsequenz eskalierender Gewalt. Die enorme Sprengkraft und Bedeutung des Zugangs zur Al-Aqsa-Moschee sollte der israelischen Regierung klar sein. Im Jahr 2000 löste der Besuch Ariel Sharons die zweite Intifada aus.

 

Das gefährliche Zündeln der israelischen Rechten ist nur Teil des Problems

 

Die Beteiligung tausender Palästinenser an der »Verteidigung ihrer heiligen Stätten«, die enormen Unruhen, die Jerusalem bei jeder Schließung des Areals für Muslime erschütterten, lassen die radikalen jüdischen Besucher wie Provokateure aussehen, deren Treiben die Stadt an den Rand eines Krieges führen könnte.

 

Nachdem Jordanien, formal Hüter der heiligen Stätten in Jerusalem, den Botschafter aus Tel Aviv abgezogen hat und US-Außenminister John Kerry intervenierte, knickte Premierminister Netanjahu ein. Es werde »keine Änderung des Status Quo« geben. Selbst der sonst so scharfzüngige Außenminister Avigdor Lieberman mahnte Knesset-Abgeordnete und seine Ministerkollegen, nicht mit dem Ziel billiger Publicity durch Besuche des Areals eine unkontrollierbare Eskalation in Kauf zu nehmen.

 

Doch diese scheinbaren Mäßigungsversuche von Netanjahu und Co. stehen im krassen Widerspruch zu ihren sonstigen Handlungen. Die versuchte Einschränkung des Zugangs zum Tempelberg ist lediglich ein Aspekt der israelischen Expansionspolitik. Der massive Ausbau von Siedlungen in Ost-Jerusalem und im Westjordanland und die fortdauernde Strangulierung des Gazastreifens sind hochgefährliche Zutaten für eine erneute Gewaltspirale.

 

Zunehmend sehen sich moderate palästinensische Kräfte mit dem Rücken zur Wand. Das routinemäßige Beharren auf eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung wirkt inzwischen für viele Palästinenser lächerlich. Gruppierungen wie die Hamas und der Islamische Jihad wittern ihre Chance, Mahmud Abbas und die alternde Garde der Oslo-Vertreter endgültig ins Abseits zu stellen.

 

Palästinensische Slums mitten in der Heiligen Stadt

 

Dass eine mögliche neue Intifada in Jerusalem ihren Ursprung hat, ist wenig verwunderlich. Die etwa 300.000 Palästinenser in der Stadt sind meist staatenlos und werden von Israel lediglich mehr oder weniger geduldet. Mit ihrer für Jerusalem gültigen »Aufenthaltsgenehmigung« haben sie kein Recht auf Beteiligung an israelischen Wahlen. Das Bleiberecht kann jederzeit entzogen werden, wenn der Staat behauptet, dass Palästinenser ihren Lebensmittelpunkt nicht in Jerusalem haben.

 

Da es in Jerusalem für Palästinenser nahezu unmöglich ist, Baugenehmigungen zu bekommen (über geschickte Umwege: palästinensische Stadtviertel sind in der Regel als »landwirtschaftliche Fläche« klassifiziert), stehen vor allem junge Familien immer mehr unter Druck, außerhalb der Stadtgrenzen zu leben. Wer trotzdem in Jerusalem baut, riskiert hohe Strafen und den Abriss des Hauses. Mehr als 75 Prozent der Palästinenser in Ost-Jerusalem leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, wie auch die Zahl der Schulabbrecher.

 

Obwohl Palästinenser in Ost-Jerusalem genauso viel Steuern an die Stadtverwaltung zahlen wie jüdische Israelis, bekommen sie nahezu keine Dienstleistungen. Die Schulsituation ist prekär, die Wasserversorgung schlecht, Straßen sind oft fast unbefahrbar. Die Gesundheitsversorgung ist völlig unzureichend. Da Palästinenser aus Ost-Jerusalem für eine Arbeitsstelle oft in den Westteil der Stadt pendeln, erleben sie täglich die Unterschiede wie Tag und Nacht. Mehrere dicht besiedelte palästinensische Stadtteile Jerusalems sind inzwischen durch den Verlauf der Trennmauer von der Stadt abgeschnitten.

 

Da sie zwar formal noch der Jerusalemer Stadtverwaltung unterstehen, diese sich aber nicht kümmert, entwickeln sich diese Viertel zu einer Art Niemandsland, auf dem wild gebaut wird und die Kriminalität auf Grund fehlender Kontrolle und mangelnden Perspektiven zunimmt. Israelische Regierungsvertreter überlegen laut, ob sie, neben den teilweise bereits durchgeführten »Rache-Abrissen« von Familienhäusern von Attentätern, auch das Bleiberecht der Familien entziehen sollen.

 

Solche gefährlichen Diskussionen verstärken das Gefühl der Palästinenser in Jerusalem, dass sie nicht nur diskriminiert werden, sondern komplett unerwünscht sind. Sie sind demnach nicht einmal Bürger zweiter Klasse, wie sich israelische Palästinenser etwa im Norden Israels sehen: Sie sind wie Asylanten auf der Abschiebebank. Erste Schritte für ein Grundgesetz zur Formalisierung der Priorisierung des jüdischen Charakters des Staates Israel vor dem demokratischen bestätigen für Palästinenser diese Einschätzung und verstärken die Entfremdung.

 

Wer die Ursachen nicht anerkennt, findet auch keine Lösung

 

Die rechte israelische Regierung scheint nicht im Stande zu sein (oder ist politisch nicht gewillt), klare Kausalitäten zu erkennen. So liegt für zahlreiche rechte Regierungsvertreter die Ursache palästinensischer Gewalt nicht in zunehmender Unterdrückung und Perspektivlosigkeit, sondern in inhärentem Hass auf Israel. Nur so lässt sich die schräge Logik der drastischen »Sicherheitsantwort« verstehen.

 

Zunehmend werden Erwägungen laut, keine Palästinenser in »sensiblen« Berufsfeldern mehr einzustellen, wie etwa als Busfahrer oder Bauarbeiter. Somit entsteht in der von Israel gebetsmühlenartig »unteilbare, ewige Hauptstadt Israels« genannten Stadt zunehmend ein Apartheidssystem. Dass diese Schritte das ursächliche Leid der Palästinenser nur noch verstärken und somit zum Scheitern verurteilt sind, wird in Israel kaum diskutiert.

 

Hausabrisse, Entzug von Aufenthaltsgenehmgungen der Familien von Attentätern und jahrzehntelange Haftstrafen für Steinwürfe mögen gegenüber der zunehmend rechtsorientierten israelischen Wählerschaft eine populistische Funktion haben; sie tragen aber zur weiteren Verbitterung der Palästinenser bei. Dass ein grundsätzlich politisches Problem nicht mit gewaltsamen Mitteln gelöst werden kann, wissen viele israelische Sicherheitsexperten nur zu gut. Leider tun sie dies aber meist erst nach Eintritt in den Ruhestand kund.

Von: 
Franz Sigel

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