Lesezeit: 8 Minuten
Forensik und der Krieg der Drohnen

Forensik für das Volk

Feature

Eyal Weizman und sein Team wollen mittels forensischer Architektur helfen, urbane Kriegsführung rechenschaftspflichtig zu machen. Das Projekt könnte auch dazu beitragen, dass Drohnenschläge besser kriegsrechtlich verfolgt werden können.

Langsam bewegt der Pilot den Joystick. Auf dem Bildschirm ist zu sehen, wie sich das von ihm gesteuerte Flugzeug über ein Wohngebiet bewegt. Er nimmt ein Haus ins Visier, drückt einen Knopf und das Gebäude verschwindet in einer Staubwolke. Dass es sich so erschreckend echt anfühlt, liegt nicht etwa an der beeindruckenden Grafik neuester Spielekonsolen, sondern daran, dass es echt ist. So oder so ähnlich muss sich ein Drohnenschlag im Gazastreifen wohl anfühlen. Die Israelis geben immerhin noch Warnschüsse für die unschuldigen Hausbewohner ab – und versuchen sich damit auch rechtlich etwas Spielraum zu verschaffen.

 

Anders die Amerikaner. Nach den verlustreichen konventionellen Kriegen im Afghanistan und im Irak erfreuen sich die chirurgischen Angriffe dort bei Militärs großer Beliebtheit. Unter der Präsidentschaft von Friedensnobelpreisträger Barack Obama hat die Zahl der Einsätze rasant zugenommen. Rechtlich ist der Status immer noch unklar, die Technik wird vor allem dort eingesetzt, wo es sowieso kaum staatliche Strukturen gibt. »Extralegale Tötung« ist der Euphemismus für das, was viele als Kriegsverbrechen sehen. Bindende Kriterien für die Maximalzahl ziviler Opfer gibt es nicht.

 

Nicht nur deshalb gelten sie nicht gerade als feine Art der Kriegsführung. Zu feige erscheint die Steuerung eines Flugkörpers per Joystick aus tausenden Kilometern Entfernung, die auf Knopfdruck Kollateralschäden anrichten kann, als dass sie jemals »Hearts and Minds« gewinnen könnte. Doch Angriffe lassen sich nicht nur von zu Hause ausführen, sondern auch aufklären. »Im Gazastreifen, Jemen oder Waziristan haben Menschenrechtsaktivisten kaum Zugang, selbst Journalisten und Entwicklungshelfer kommen nur schwer dorthin«, erläutert Jacob Burns, der als Forscher an dem interdisziplinären Projekt mitarbeitet, das vom Europäischen Forschungsrat finanziert wird.

 

Die Gruppe aus Architekten, Designern, Künstlern und Geisteswissenschaftlern unter Federführung des bekannten israelischen Intellektuellen Eyal Weizman will dort Abhilfe schaffen und es möglich machen, den Tathergang am Computer zu rekonstruieren. Es mag erst einmal eigenartig erscheinen, wenn ein Ermittler den Tatort niemals gesehen hat. Aber das hat der Täter in diesem Fall ja auch nicht.

 

So findet die Arbeit zum großen Teil mittels Fotos und Videos von London aus statt. Sie stammen von Satellitenaufnahmen, den sozialen Netzwerken, lokalen Journalisten oder einfach aus Privatmaterial. Mit den richtigen Hashtags und Suchalgorithmen fällt dies noch relativ leicht, schwieriger ist die Bewältigung der Datenmenge. Die kann je nach Fall schon mal bis zu 5.000 Dateien umfassen, die sich teilweise widersprechen. Diese werden dann mit spezieller Software, die sonst in der Stadtplanung und Kartographie zum Einsatz kommt, aufgearbeitet.

 

So wird der Einschlagpunkt einer Rakete genau trianguliert, dann der Tatort auf besondere architektonische Merkmale untersucht und letztlich sogar ganze Häuser mit Modellierungsprogrammen zurück ins Leben geholt, um letztlich den Ablauf der Geschehnisse möglichst genau zurückverfolgen zu können. Das Verfahren lässt sich nicht nur auf Drohnenschläge, sondern auf alle möglichen Verbrechen anwenden, die in urbanen Räumen stattfinden. Auch eine ozeanographische Untersuchung gab es schon.

 

Die beteiligten Regierungen machen sich bisher die Unangreifbarkeit der Drohnenpiloten zunutze

 

Einige kleine Erfolge können die Wissenschaftler schon vorweisen. Als 2009 der Palästinenser Bassem Abu Rahma bei einem Protest im Westjordanland erschossen wurde, konstruierten sie ein virtuelles Modell des Tatorts aus Bildern und Videos. So konnten sie nachweisen, dass die Kugel, die ihn traf, nicht versehentlich durch einen Zaun umgelenkt wurde, wie das Militär es angab, sondern direkt auf ihn flog. Der Militärstaatsanwalt eröffnete daraufhin ein Verfahren, was er zuvor abgelehnt hatte. Nach Auswertung des Materials geht es darum, mögliche Täter haftbar zu machen.

 

Hier liegt wohl das größte Potenzial des Projekts. Denn neben der Unangreifbarkeit der Piloten haben die futuristischen Maschinen einen, beziehungsweise zwei Vorteile. Sie gelangen durch die einfache Steuerbarkeit auch in abgelegenste Gebiete. Was gleichzeitig auch bedeutet, dass bei Waffeneinsatz und eventuellen unbeabsichtigten Nebeneffekten eine Aufklärung der Ereignisse nur schwer möglich ist. Die beteiligten Regierungen machen sich das zunutze und leugnen die Angriffe. Forensische Architektur profitiert hier von ihrer Unabhängigkeit von Zeit und Raum.

 

Und da das Internet bekanntlich nichts vergisst, lässt sich der Tathergang auch noch Monate später nachvollziehen. Schwierig wird es natürlich, wenn nicht genug Material zu einem Fall existiert. Da die Ermittler nicht selbst zum Tatort können, sind sie auf engagierte Leute vor Ort angewiesen, die genügend Aufnahmen erstellen, sonst ist die Arbeit von London aus unmöglich. Die Allgegenwärtigkeit des Netzes könnte letztlich dazu führen, dass mit Ideen wie dieser eine zivilgesellschaftliche Strafverfolgung entsteht.

 

»Wir wollen Forensik, die normalerweise mit staatlicher Kontrolle und Macht assoziiert wird, für einfache Bürger zugänglich machen und damit eine antihegemonielle Praxis etablieren, die bestehende Machtstrukturen erwidern, konfrontieren und verantwortlich machen kann«, beschreibt Francesco Sebregondi, der das Projekt aktuell koordiniert, die Ambitionen des Teams. Dazu beitragen könnte, dass sich die Kräfteverhältnisse auf der internationalen Bühne ändern.

 

»Die Foren der Justiz sind nicht nur auf die rechtliche Domäne beschränkt, sondern beinhalten auch Menschenrechtskommissionen und -versammlungen sowie Medienberichte. Einige Gruppen haben Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht als Waffe gebraucht und damit das ganze Gebiet belebt, indem sie das Gefühl für das Eintreten für fremde Interessen erneuert haben«, fügt Eyal Weizman hinzu.

 

Taugen die Erkenntnisse der Forensiker künftig als Beweismittel vor dem Internationalen Strafgerichtshof?

 

Hier sieht der Leiter des Projekts, der sich seit jeher kritisch mit den Auswirkungen urbaner Kriegsführung – speziell in seiner Heimat Israel – auseinandersetzt, das Schlachtfeld der Zukunft. »Mit der Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, Palästina als Unterzeichner zu akzeptieren wird dem Bereich des Rechts eine stärkere Rolle zukommen – und damit auch der Produktion von Beweismaterial.« Wenn es gut läuft, könnten die Ergebnisse forensischer Architektur in ein paar Jahren als Beweismittel vor dem Internationalen Strafgerichtshof dienen und zu Verurteilungen beitragen.

 

Oder vielleicht auch schon vorher. Im neuesten Fall untersuchen die Forscher den Einsatz der Hannibal-Direktive durch die israelische Armee im Gaza-Konflikt 2014. Der Inhalt des Verfahrens ist bis heute geheim, ungefähr bekannt ist aber, dass die IDF unverhältnismäßige Gewalt einsetzt, um Soldaten vor der Gefangennahme zu bewahren. Beim letzten Gefangenenaustausch musste Israel 1.027 Häftlinge gegen einen Soldaten einlösen, deswegen sieht es Armeeangehörige lieber tot als lebendig.

 

Als im vergangenen August Leutnant Hadar Goldin Gefahr lief, in die Hände der Hamas zu geraten, griff die Direktive anscheinend, was zum Tod des Soldaten und 150 Palästinensern nach massivem Artillerie- und Raketenbeschuss führte. Im laufenden Verfahren wird nun detailversessen jeder Krater und jedes Einschussloch untersucht, um nachzuverfolgen, wo Zivilisten getötet wurden, und ob Israel nach dem Tod des Soldaten noch weiter schoss. Die Metadaten der Bilder geben Aufschluss über Zeitpunkt und Ort der Aufnahmen.

 

Da die Direktive rechtlich auf wackeligen Füßen steht, könnte die hohe Anzahl ziviler Opfer für die Verantwortlichen Folgen haben. Ansonsten beschränkt sich im Moment noch viel auf Unterstützung für Opfer verschiedenster Angriffe und die Zusammenarbeit mit Menschenrechtlern wie zum Beispiel Amnesty International. Langfristig ist das Ziel aber, in der Arena des internationalen Rechts mitzumischen und das Crowdsourcing der Ermittlungen voranzutreiben.

Von: 
Oliver Imhof

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.