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Inhaftierung von Mahmud Sarsak

Zelle statt Strafraum

Feature

Nach 95 Tagen im Hungerstreik kommt der Mittelstürmer der palästinensischen Nationalmannschaft frei. Doch die Inhaftierung von Mahmud Sarsak in israelischer »Verwaltungshaft« ist kein Einzelfall.

West-Jerusalem am 17. Juni: Auf der Leinwand vor der »Ha-Taklit«-Bar läuft das Spiel Portugal gegen die Niederlande. Die Zuschauer und Fans, vereinzelnd auch mit orangenen und roten Trikots ausgestattet, verfolgen gebannt, wie die Superstars des internationalen Fußballs, Ronaldo, Robben und van Persie um den Einzug in das Viertelfinale der EM kämpfen. Für einen Großteil der Welt sind die Wochen der EM Freudentage, an denen die Spielereignisse des Vortages die Gespräche mit Kollegen während der Arbeit und abends mit Freunden und der Familie dominieren – in Israel ist das nicht anders.

 

In West-Jerusalem herrscht abends auf den Straßen eine ausgelassene Stimmung, und auch wenn tagsüber Schlagzeilen über ein Attentat an der israelisch-ägyptischen Grenze Sorge bereiten, widmet man sich abends wieder gespannt der »wichtigsten Nebensache der Welt«. Auf der anderen Seite der Mauer, nur 12 Kilometer weiter nördlich – in Ramallah – ist die Fußballbegeisterung dieser Tage deutlich verhaltender. Der Grund ist das Schicksal des palästinensischen Nationalspielers Palästinas, dessen Name in Israel vermutlich nur die wenigsten kennen.

 

Von der Weltöffentlichkeit und medialer Berichterstattung größtenteils ignoriert, befand er sich 95 Tage im Hungerstreik und schwebte mit nur noch 30 Kilo Körpergewicht und ständigen Phasen der Bewusstlosigkeit laut Menschenrechtsgruppen in akuter Lebensgefahr. Fast scheint es, als würde ihm der Fußball, seine große Leidenschaft, zum Verhängnis werden, da die Fußball-Europameisterschaft seinen Protest gegen seine Inhaftierung ohne Anklage derzeit aus den Schlagzeilen verdrängt.

 

Mahmud Sarsak, der über seine herausragenden Leistungen bei seinem Heimatverein Khadamat Rafah im Gaza-Streifen in die palästinensische Nationalmannschaft berufen wurde, wuchs im Flüchtlingslager in Rafah auf und suchte wie viele seiner Altersgenossen Abwechslung und Hoffnung im Fußball. Bereits mit 14 Jahren spielte der hochtalentierte Sohn einer Familie von Sportlern als Mittelstürmer in der ersten Mannschaft des Fußballvereins von Rafah und wurde einige Jahre später als jüngster Spieler des Teams in die Nationalmannschaft berufen. Für Palästina spielte er in den darauf folgenden Jahren unter anderem in Norwegen, der Türkei und Ägypten und studierte gleichzeitig noch an der Universität Informatik.  

 

Zweifelhafte Rechtsgrundlage und nicht gehaltene Zusagen

 

Am 22. Juli 2009 wurde ihm ein Auswärtsspiel seines Vereins zum Verhängnis. Bei der Ausreise setzte ihn das israelische Militär am Checkpoint Eretz fest und, nachdem Verbindungen zur terroristischen Gruppierung »Islamischer Jihad« nicht nachgewiesen werden konnten, wurde er auf Grundlage des so genannten »Unlawful Combatans Law« inhaftiert. Dieses Gesetz erlaubt es Israel, Palästinenser aus dem Gaza-Streifen für unbestimmte Zeit und ohne Anklage und Prozess in »Sicherheitsverwahrung« zu nehmen.

 

Alle sechs Monate entscheidet das zuständige israelische Bezirksgericht über die Verlängerung der Inhaftierung. Mahmud Sarsaks Haft wurde bis heute sechs mal ohne Begründung verlängert. Er durfte seitdem von seiner Familie weder Briefe erhalten, noch mit ihnen telefonieren. Neben der israelischen Menschenrechtsorganisation B'tselem hat nun auch Amnesty International das Gesetz, nach dem nicht Israel die Schuld Mahmud Sarsaks beweisen muss, sondern er seine Unschuld und gleichzeitig der Möglichkeiten dazu beraubt wird, als verfassungswidrig und als Bruch internationalen Rechts kritisiert.

 

Die Tatsache, dass Mahmud Sarsak im Vorfeld des Länderspiels eine Ausreisegenehmigung von Israel erteilt bekommen hatte und diese sonst ausschließlich für Personen ohne Sicherheitsbedenken ausgestellt werden, wirft in diesem Zusammenhang Fragen auf. Derweil ist Mahmud Sarsaks Schicksal kein Einzelfall. Über 300 Palästinenser befanden sich bis Mitte Mai in so genannter »Verwaltungshaft« in israelischen Gefängnissen. Die Praxis der Verwaltungshaft wurde im Zusammenhang mit dem Hungerstreik von mehr als 1500 der rund 4700 palästinensischen Insassen israelischer Gefängnisse verstärkt auch international bekannt.

 

Der Hungerstreik wurde zwar mit der israelischen Zusage, die Haftbedingungen in den israelischen Gefängnissen zu verbessern und die Verwaltungshaft nicht zu verlängern von den meisten Gefangenen beendet, laut dem palästinensischen Minister für Häftlinge, Issa Karakaa, halte sich Israel jedoch nicht an die Versprechungen und habe inzwischen – seitdem der internationale Druck auf die israelische Regierung nachgelassen hat – in mehr als 30 Fällen die Verwaltungshaft erneut verlängert.

 

UEFA-Präsident Platini sieht keinen Handlungsbedarf

 

Die palästinensische Seite hoffte auf erneute internationale Unterstützung. Als Bundespräsident Joachim Gauck, der noch einige Wochen zuvor eine Reise in die Ukraine aufgrund der politischen Inhaftierung Julia Tymoschenkos abgesagt hatte, bei seinem Staatsbesuch in Israel und in die Palästinensischen Gebiete Ende Mai Kritik an der »Verwaltungshaft« vermied, war die Enttäuschung bei palästinensischen Politikern groß. Dann aber deutete sich Unterstützung von unerwarteter Seite an.

 

Nachdem die französische Fußballlegende Eric Cantona und der ehemalige Stürmer Frédéric Kanouté letzte Woche einen Brief mit der Forderung nach der Freilassung Mahmud Sarsaks unterschrieben, setzte sich auch Fifa-Boss Joseph Blatter für Mahmud Sarsak ein und zeigte sich besorgt über die »mutmaßlich illegale Haft«. Darüber hinaus wuchs der Druck auf die UEFA sich klar zu positionieren – sie hatte Israel die Ausrichtung der U21-Fußball-Europameisterschaft 2013 zugeschlagen.

 

Der israelische Fußballverband äußerte sich dazu in einem offiziellen Schreiben und betonte: »Wir sind uns sicher, dass die FIFA und die UEFA Politik nicht mit Sport vermischen werden und dass die U21-EM im nächsten Sommer planmäßig in Israel stattfinden wird.« Diese Bedenken sind inzwischen allerdings zerstreut. UEFA-Präsident Michel Platini stellte – noch vor der Nachricht über die Freilassung Sarsaks – unmissverständlich klar, dass das Turnier in Israel stattfinden werde.

 

Die wohl überraschendste Unterstützung kam allerdings von Seiten des israelischen Armee-Reservisten Yaniv Mazor, der sich derzeit in Haft befindet, weil er sich nach eigenen Angaben wehrt, in einer »Besatzungsarmee« zu dienen. Er befindet sich seit dem 17. Juni in Hungerstreik aus Solidarität zu den »unrechtmäßig« inhaftierten Palästinensern. Es sei ihm nicht mehr möglich, einfach weiterhin über die Unrechtmäßigkeit der »Verwaltungshaft« hinwegzusehen.

 

Derweil geht die Fußballparty in den Straßen West-Jerusalems weiter. Nach einer großartigen Vorstellung Cristiano Ronaldos gewinnt Portugal das Spiel gegen die Niederlande und ist verdient im Viertelfinale. Die Zuschauer strömen nach Hause, feiern über den Sieg, oder versinken in Trauer.

Von: 
Clemens Schuur

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