Mit den Büchern verschwinden Lehrmaterialien, aber auch das Gedächtnis einer ganzen Welt. Warum die Literaturproduktion gerade inmitten dieses Kriegs so wichtig für Palästina ist.
Ein geflügeltes Wort des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch ist beinahe zur anerkannten Realität geworden: »Wir haben ein Land aus Worten«. In Ermangelung eines eigenen Staates existiert und lebt Palästina demnach in einer Welt aus Schrift und Sprache. Schriftsteller und Dichter sind dort die eigentlichen Staatsmänner und Diplomaten. Und der Literaturbetrieb, zu dem Verlage, Händler, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen gehören, bildet das Gemeinwesen – über Grenzen hinweg.
Inwieweit das Existenzrecht dieser Wortrepublik mittlerweile bedroht ist, machte eine Razzia der israelischen Polizei in mehreren Buchhandlungen des Educational Bookshop in Ost Jerusalem deutlich. Am 9. Februar wurden zwei Läden durchsucht, Bücher beschlagnahmt und der Betreiber Mahmud Muna dem Haftrichter vorgeführt. Doch der Vorwurf der »Terrorismusunterstützung« war nicht haltbar. Muna, Mitherausgeber eines neuen Sammelbandes mit dem Titel »Daybreak in Gaza« kam nach zwei Tagen wieder frei.
In Reaktion auf das repressive Vorgehen der israelischen Behörden verlautbarte auch der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, man »verurteile alle Akte der Gewalt und Unterdrückung gegen Buchhändler und Buchhandlungen, die einfach nur ihre Kernaufgabe erfüllen, nämlich die Förderung von Meinungsfreiheit, Toleranz und den friedlichen Austausch von Ideen«.
Das Beispiel des Educational Bookshop ist ein Indiz dafür, wie nicht nur Menschen, sondern auch Bücher ins Fadenkreuz geraten. Verheerend sind in dieser Hinsicht auch die Folgen der Bombardements und der Bodenoffensive in Gaza, die Israel in Reaktion auf das Massaker der Hamas an 1.200 Zivilisten vom 7. Oktober 2023 startete. Was die Frage aufwirft: Wie ist es um das »Land aus Worten« heute – über ein Jahr nach Ausbruch der Gewalt – bestellt?
Am 9. Februar wurden zwei Läden durchsucht, Bücher beschlagnahmt und der Betreiber Mahmud Muna dem Haftrichter vorgeführt
In einem Text, der im Dezember 2024 in der Berlin Review erschienen ist, beschreibt Muhammad Al-Zaqzouq, wie er für seine Familie auf dem Schwarzmarkt in Gaza einen Sack Mehl kauft. Endlich können sie wieder Brot backen – wäre da nicht ein Hindernis. Da Brennmaterial für die verbliebenen Lehmöfen rar ist, muss mit Papier und Karton geheizt werden. Doch außer der privaten Bibliothek des Autors ist nichts zur Hand. Seine Frau Ola spricht das Dilemma an:
»Meinst du nicht, wir könnten vielleicht ein oder zwei deiner Bücher…? Sobald der Krieg vorbei ist, kannst du sie dir ja nachkaufen.« Sie sagte das so zart und vorsichtig, wie sie nur konnte, und fügte hinzu: »Dass die Kinder etwas zu essen haben, ist gerade wichtiger, als dass sie vorgelesen bekommen.« Das tat weh. […] In all den Jahren, während derer ich mir diese Bücher nach und nach angeschafft hatte, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, dass ich einmal zwischen ihnen und Brot für meine Kinder würde wählen müssen.
Dank der Solidarität eines Nachbarn bleibt Zaqzouq die Bücherverbrennung erspart. Sein Grundgefühl – »dass meine Büchersammlung lebendig war. Dass sie einen Körper besaß, aus Fleisch, Blut und Erinnerung« – zeugt jedoch davon, welcher Wert diesen Trägern menschlicher Kultur zukommt.
Von Heinrich Heine stammt der bewegende Satz, »wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen«. In Gaza verhält es sich umgekehrt. Zwar lässt sich kein verbranntes Leben zurückbringen, dennoch stellt sich die Frage: Wie kann die zerstörte Kultur, allen voran Orte der Bildung wie Schulen, Bibliotheken, Universitäten, nach einem Ende der israelischen Kriegführung wiederaufgebaut werden? Beginnen wir mit einer Bestandsaufnahme.
Fünf Universitätsbibliotheken, 13 Büchereien, darunter das Zentralarchiv Gazas sind zerstört
Vorneweg sei erwähnt, dass die Alphabetisierungsrate im Gazastreifen 2022 bei 98,2 Prozent lag. 25 Jahre zuvor hatte sie noch 86,3 Prozent betragen. Eine Steigerung, die dank flächendeckender Bildungsangebote erreicht wurde und von der Bedeutung von Schulen und Bibliotheken in dem Küstenstreifen zeugt. Noch ist nicht absehbar, wie sehr das Kriegsgeschehen der vergangenen anderthalb Jahre diese Entwicklung beeinträchtigt. Fakt ist jedoch, dass seit November 2023 der Schulbesuch für 660.000 palästinensische Kinder und Jugendliche in Gaza zum Erliegen gekommen ist. Denn innerhalb kürzester Zeit wurden die allermeisten Schulen zu Notunterkünften für die schutzsuchende Bevölkerung. Und obwohl das Völkerrecht zivile Einrichtungen unter besonderen Schutz stellt, wurden von den insgesamt 564 Schulen 77 vollständig zerstört und 406 beschädigt. Allein für die Wiederinstandsetzung der Gebäude veranschlagt das »Global Education Cluster«, ein Zusammenschluss mehrerer UN-Organisationen und NGOs, umgerechnet über 180 Millionen Euro.
Doch wer wird in diesen Schulen zukünftig unterrichten und wie? Bis Ende Oktober 2024 waren 441 Lehrerinnen und Lehrer getötet und 2.491 verwundet worden. Unter den Kindern im Schulalter betrug die Opferzahl bis dahin 11.054, die Zahl der Verletzten 16.897. Ebenso sind Universitäten und ihre Angehörigen getroffen worden. Es scheint, dass der Krieg gegen Gaza auch ein Kampf gegen das grundlegende Recht auf Bildung ist. Im April 2024 sprach dann auch das oberste Expertengremium des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte zum ersten Mal von einem »Scholastizid« – der systemischen Vernichtung von Bildung durch Festnahme, Inhaftierung oder Ermordung von Lehrern, Schülern und Angestellten des Bildungssystems sowie durch die Zerstörung der Bildungsinfrastruktur.
Diese Form der Kriegführung, die sich gegen die kulturellen Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft richtet, ist seit dem Ersten Arabisch-Israelischen Krieg 1948 zu beobachten, der auf die Staatsgründung Israels folgte. Damals gingen 30.000 zurückgelassene Bücher und Manuskripte in israelischen Besitz über. Von ungekanntem Ausmaß ist die heutige kulturelle Verwüstung Gazas: Fünf Universitätsbibliotheken, 13 Büchereien, darunter das Zentralarchiv von Gaza, wurden zerstört. Die meisten in den ersten drei Monaten des Krieges. »Die kulturellen Grundlagen der palästinensischen Gesellschaft liegen in Trümmern, und ihre Geschichte wird dem Erdboden gleichgemacht«, heißt es dazu im Bericht der UN Menschenrechtsexperten.
Mit den Büchern verschwinden Lehrmaterialien, aber auch das Gedächtnis einer ganzen Welt. »Meine Besuche in der Maghazi-Bücherei [einem Ort in Zentralgaza]«, erinnerte sich jüngst die Autorin Shahd Al-Naami aus Gaza, »haben die Liebe für Bücher in mir geweckt und mein Leben nachhaltig geprägt.« Bücher dienen uns nicht bloß zur Unterhaltung und Weitergabe von Wissen, sondern angesichts der Not vor allem als geistige Nahrung: »Fantasie kann Zuflucht sein und Lesen Widerstand.«
Menschen wie Shahd Al-Naami lassen sich nicht unterkriegen: »Trotz der Verwüstung bin ich zuversichtlich, dass die Büchereien in Gaza, sobald der Genozid endet, aus der Asche auferstehen.« Ein Lichtblick sind auch die fortlaufenden Anstrengungen der UNRWA: Mittlerweile hat das Hilfswerk in gut 400 »temporären Lernräumen« ein grundlegendes Bildungsangebot für 50.000 Kinder eingerichtet. Parallel werden digitale Lernangebote kontinuierlich ausgebaut. Fast die Hälfte aller Schulkinder hat man so bisher erreicht.
Und auch die Geschichten und Erzählungen der Menschen aus dem Krisengebiet verstummen nicht, wie zwei neue Buchveröffentlichungen belegen. Die Verewigung der eigenen Stimme in Text und Ton hat das Überleben der palästinensischen Identität über Generationen und Kriege hinweg gesichert. Wie der jordanische Literaturwissenschaftler Fakhri Saleh beschreibt, rekonstruierten die Vertriebenen ihre Heimat aus der Erinnerung und »die bereits im Exil Geborenen schöpften aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. In Gedichten, Erzählungen und Romanen wurde Palästina so in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Literatur wieder erschaffen.«
Die Menschen in Gaza bewahren ihr Land und ihre Hoffnung neben Worten auch in Kunsthandwerk, Musik und ihrer Küche
Ein solcher Nachgeborener ist auch der austro-palästinensische Autor Wahad – ein Pseudonym, das auf Arabisch »eins, einer« oder auch »(irgend)jemand« bedeutet: »Denn in unseren Geschichten sind wir eins, Wahad, und doch steht jedes Schicksal .… für sich.« Die kurzen Texte seines neuen Bands »Gaza, lebendig halten« haben die eigene Stellung und Selbstverortung zum Ausgang. In einer Zeit, in der Palästinensern in Deutschland und Österreich offene Feindseligkeit entgegenschlägt, während ihre Verwandten und Angehörigen in Gaza und dem Westjordanland ermordet werden, lässt uns Wahad an seinen Reflexionen teilhaben. Häufig in Form von inneren Gesprächen, in denen der Autor ihm nahestehende Menschen in Gaza und Österreich mit »Du« anruft und seine Gedanken an sie richtet.
Darunter beispielsweise Onkel Rafat. Seine liebevoll umhegten VW-Busse, mit denen er in Israel früher Trödel sammelte und verkaufte, nannte er Fluxa (kurz für Volkswagen): »Jahre später nutzte er Fluxas[,] um das Leben anderer zu retten, bis es ihn sein eigenes gekostet hat.« Oder seine Tante, Leiterin einer zur Notunterkunft umfunktionierten UNRWA-Schule: »Ständig hört sie die Schreie der Menschen, der Kinder, für die sie sonst die Verantwortung trägt, aber sie kann nichts machen.«
Ein Denkmal aus Worten ist auch der von Mahmud Muna herausgegebene Sammelband »Daybreak in Gaza«. Er gibt den Zahlen und Statistiken des Krieges ein menschliches Gesicht. Insgesamt 60 Autorinnen und Autoren kommen darin zu Wort. Auch sie »vor allem anderen Geschichtenerzähler«, wie der 2023 bei einem Luftangriff getötete Dichter Refaat Al-Arir bekennt, »denn das ist, was ich als Palästinenser von meinen Eltern und Großeltern gelernt habe«. Sein Schreiben ist auch eine Ermutigung für andere gewesen.
Die Vignetten bezeugen, dass die Menschen in Gaza ihr Land und ihre Hoff nung neben Worten auch in (Foto-) Dokumenten, Kunsthandwerk, Musik und ihrer Küche bewahren. Und auch wenn durch »Hoffnung die Gefallenen nicht wiederauferstehen oder sich die geborstenen Landschaften wieder fügen«, wie Khaldun Bshara schreibt, »kann sie doch das Feuer unserer Fantasie entfachen, um eine alternative Zukunft heraufzubeschwören.«
Einen Hoffnungsschimmer in dieser Hinsicht enthält auch der im März von Ägypten und der Arabischen Liga vorgestellte Aufbauplan: Die Wiedererrichtung öffentlicher Bildungsstätten ist darin innerhalb von fünf Jahren vorgesehen. Das letzte Wort ist also noch lange nicht gesprochen. Mahmud Darwischs ursprünglicher Wunsch wird allerdings bis auf Weiteres unerfüllt bleiben: »Wir haben ein Land aus Worten, sprich, sprich, damit wir das Ende dieser Reise erkennen.«
Ruben Schenzle ist Arabist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Im Juni 2025 erschien von ihm ein literarischer Essay mit dem Titel »Fiktive Grenzüberschreitung: Zusammenhänge von Schoah, Nakba, Holocaust erzählen« beim Verlag AphorismA.