Der Journalist Carsten Stormer reiste unter Lebensgefahr nach Aleppo. Für das Filmmaterial, das er mitbrachte, hatten deutsche Sender keine Verwendung. Ein Gespräch über Medienökonomie und die Frage, ob Berichte etwas ändern können.
zenith: Seit Kriegsausbruch reisen Sie regelmäßig nach Syrien. Wie hat sich die Lage für Berichterstatter dort verändert?
Carsten Stormer: Vor meinem letzten Besuch im Juni war ich sieben Monate lang nicht in Syrien gewesen. Es war einfach zu gefährlich. Letztes Jahr war ich in der Nähe von Damaskus, musste zwei Tage lang zu Fuß laufen, um an mein Ziel zu gelangen, und beinahe wäre ich nicht mehr rausgekommen. In den Norden, in Städte wie Aleppo, konnte man monatelang nicht reisen, weil ISIS ständig ausländische Journalisten entführte. Es gab so gut wie keine Berichterstattung mehr. So weit, so schlecht.
Dennoch sind Sie nun nach Aleppo gefahren, unter anderem um eine Gruppe von lokalen Rettungshelfern zu begleiten, die Menschen aus bombardierten Häusern holen.
Ja. Anfang April hatten die Rebellen ISIS so weit zurückgedrängt, dass eine Reise in den Norden zwar immer noch an Wahnsinn grenzte, aber immerhin wieder möglich war. Dazu muss man sagen, dass die syrische Opposition als einzige gegen ISIS gekämpft hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Im vergangenen Jahr war die Situation schon schlimm. Aber was ich im Juni dieses Jahres vorfand, hat mir die Sprache verschlagen. Aleppo ist eine Geisterstadt. Die wenigen tausend Menschen, die noch dort leben, werden tagtäglich mit Fassbomben bombardiert ...
... mit Sprengstoff und Schrot gefüllte Ölfässer, die aus Hubschraubern geworfen werden ...
... und zwar völlig wahllos. Es ist der reine Terror. Ständig kommt irgendwo eine Fassbombe runter, und man kann nie sagen, wo genau. Oder eine Rakete von einem Kampfflugzeug. Es kann jeden immer und überall treffen. Das zehrt an den Nerven. Teilweise konnte ich mich vor Angst kaum bewegen.
Carsten Stormer
wurde 1973 in München geboren und lebt heute als Reporter, Fotograf und Filmemacher in Manila, von wo aus er regelmäßig den Nahen Osten bereist. 2011 erschien von ihm das Buch »Das Leben ist ein wildes Tier. Wie ich die Gefahr suchte und mich selber fand«, 2014 sein E-Book »Die syrische Tragödie«.
www.carstenstormer.com
Dennoch waren Sie jeden Tag unterwegs, um zu filmen. Was haben Sie erlebt?
Ich habe an manchen Tagen 25 Fassbomben selbst miterlebt, noch vor mittags. Ich habe gesehen, wie sie aus den Hubschraubern geworfen wurden. Ich war Minuten später an den Einschlagorten. Ich habe zerfetzte Kinder, verwundete Frauen, tote Männer gesehen – tagtäglich. Das waren fast ausschließlich zivile Wohngebiete. Einmal ein Krankenhaus. Ein anderes Mal habe ich erlebt, wie ein Kampfflugzeug zwei Raketen auf einen Markt abgefeuert hat. Da waren keine bewaffneten Rebellen in der Nähe. Es macht mich noch immer fassungslos. Weit über 2.000 Menschen wurden durch diese Dinger in den vergangenen Monaten getötet, ein Großteil waren Zivilisten.
Wie kann man als Reporter unter diesen Bedingungen überhaupt arbeiten?
Was man unbedingt braucht, sind Menschen vor Ort, denen man vertrauen kann, die sich auskennen und gute Kontakte haben. Menschen, die den Krieg »lesen« können, die wissen, wo sich die Front befindet und wie sich die Frontverläufe ändern. Schusssichere Weste und Helm sind auch gut, schützen aber vor Fassbomben nicht.
»Immer höre ich von Redakteuren: Das ist doch nichts Neues, was du berichtest«
Ende Juli starben innerhalb von zwei Tagen über 700 Syrer bei Kämpfen. Abgesehen von solchen Einzelmeldungen wird das Thema in den Medien jedoch kaum noch wahrgenommen. Ist der Krieg schon Routine?
700 Menschen innerhalb von zwei Tagen! Diese Zahl muss man sich mal bewusst machen. Wo bleibt der Aufschrei? 170.000 Menschen wurden bisher getötet – und man nimmt das einfach so hin.
Was, denken Sie, sind die Gründe dafür?
Ach, der Krieg befindet sich im vierten Jahr. Und: Wer nicht vor Ort ist, kann nicht berichten. Simple Logik. Da kommen einige Redaktionen ihrer Verantwortung nicht nach.
Wie meinen Sie das?
Es gibt kaum noch deutsche Medien, die eigene Leute ins syrische Kriegsgebiet schicken – von einigen rühmlichen Ausnahmen mal abgesehen, der Spiegel zum Beispiel. Ansonsten machen das freie Journalisten, die alle Kosten und Risiken übernehmen und hinterher oft nicht mal eine Reaktion von einer Redaktion erhalten.
Vor-Ort-Reportagen aus dem Kriegsgebiet stoßen auf mangelndes Interesse? Das klingt kaum glaubhaft.
Es muss schon sehr viel passieren, damit sich ein Redakteur für Syrien interessiert. Immer höre ich: Das ist doch nichts Neues, was du berichtest. Das ist zynisch und in meinen Augen falsch. Aber natürlich, es gab in den letzten Monaten Gaza, den Irak, die Ukraine, die Fußball-WM. Alles gerade ein bisschen sexier als ein Bürgerkrieg in Syrien.
Noch einmal fürs Protokoll: Mit dieser Begründung werden Beiträge abgelehnt?
Im Printbereich ist es vielleicht noch besser. Aber ich kann nicht verstehen, dass kaum deutsche Fernsehteams nach Syrien geschickt werden. Eigene Leute, die von vor Ort berichten. Das machen die internationalen Nachrichtensender besser: Al-Jazeera, BBC, NBC, selbst CNN. Die schicken Mitarbeiter dorthin und bringen regelmäßig Sendungen zu Syrien.
»Der Wahnsinn hört nicht auf, nur weil man wegschaut«
Deutsche Sender hätten beispielsweise Sie, um das zu tun.
Beispielsweise. Und was ist die Reaktion? Viel Schulterklopfen. Toll, dass ich das mache. So ganz ohne Auftrag und ach so mutig. Aber Interesse? Eher nicht. Die WM war wichtiger. Und dann noch diese Islamisten, von denen bis dahin niemand gehört hat und die nun im Irak wüten. Dann kam noch Gaza dazu, der Abschuss der MH17 in der Ukraine und so weiter. Ich habe dafür ja auch irgendwo Verständnis. Aber dass man völlig die Augen verschließt, das kann ich nicht verstehen. Ich konnte ein paar Reportagen an Magazine verkaufen. Aber auf meinem Filmmaterial blieb ich sitzen. Fußball, das müsse ich verstehen. Keine freien Sendeplätze, und so. Mir wurde auch schon gesagt, dass bei Sendungen über Syrien die Einschaltquoten sinken. Aber ich kenne auch Redakteure, die die Situation genauso frustrierend finden wie ich. Die hätten gerne mehr und bessere Sendeplätze, um auch mal »Randthemen« wie Syrien zu thematisieren. Aber denen sind die Hände gebunden.
Ist es nicht nachvollziehbar, dass große Medien sich nach den Interessen der Menschen richten?
Das ist verständlich und irgendwo ja auch ihre Pflicht. Ich bin selbst großer Fußballfan. Dafür kann man alle paar Jahre Platz schaffen. Aber es muss eben auch Raum für andere Dinge geben. Es darf nicht nur Unterhaltung sein, gerade bei den Öffentlich-Rechtlichen sollte man nicht nur auf Quoten achten. Man hat auch den Auftrag, die Zuschauer auf das aufmerksam zu machen, was in der Welt geschieht. Der Wahnsinn in Syrien hört ja nicht auf, nur weil man wegschaut.
Denken Sie, dass eine ausgiebigere Berichterstattung etwas ändern würde? Beispielsweise politischen Handlungsdruck aufbauen?
Ich bin nicht mehr so naiv, zu glauben, dass Berichterstattung einen Konflikt beenden kann. Sie kann Aufmerksamkeit schaffen. Oft üben wir nur eine Art Chronistenfunktion aus – für das Danach, wenn alle sich wundern, wie es möglich war, so etwas schon wieder zuzulassen. Wenn Berichterstattung tatsächlich etwas ändern könnte, dann würden nicht Tausende tagtäglich in Syrien bombardiert. Dann gäbe es keine Massenvergewaltigungen im Kongo. Dann wären Ruanda und Srebrenica nicht möglich gewesen. Wie auch immer: Ich bin kein Politiker, aber es gäbe ausreichend Möglichkeiten, zumindest das Leid der Menschen mit politischen Mitteln zu lindern. In die von der Opposition gehaltenen Gebiete Syriens ist in drei Jahren nicht ein einziger Hilfskonvoi der Vereinten Nationen gelangt. Das muss man sich mal vorstellen.
Wie empfinden die Menschen, die Sie in Syrien treffen, angesichts dessen die internationale Berichterstattung über den Krieg?
Die Menschen in Syrien haben jegliche Hoffnung auf den Westen und das, was Medien bewirken können, aufgegeben. Sie fühlen sich im Stich gelassen – zu Recht.