Lesezeit: 10 Minuten
Konflikt im Südjemen

Scharade in Abyan

Analyse

Obwohl Al-Qaida offiziell im Juni 2012 vom jemenitischen Militär aus der Region Abyan vertrieben wurde, wird im Südjemen weiterhin ein globaler Konflikt fern der öffentlichen Wahrnehmung ausgetragen.

Besonders in der südjemenitischen Region Abyan werden die politischen Abgründe, die sich aus dem Machtvakuum des »Jemenitischen Frühlings« ergaben, deutlich spürbar. Bereits 2009 wurden in Abyan und Shabwa Kämpfer Al-Qaidas vermutet. Damals glaubte jedoch keiner so recht an deren Existenz im Südjemen, stattdessen wurden die Machenschaften des Saleh-Regimes hinter der Schaffung Al-Qaidas vermutet, um die »Bewegung des Südens« zu torpedieren. Wer zu Al-Qaida gehörte und wo sich die Kämpfer aufhielten, blieb innerhalb der Bevölkerung spekulativ.

 

Anderthalb Jahre nach dem Beginn der Proteste des Arabischen Frühlings ist Aden tief gezeichnet, die Einschüsse in zahllosen Häuserfassaden spiegeln die prekäre Sicherheitssituation der letzten Monate wider. Die Staatsmacht scheint sich heute gerade noch in der Hauptstadt Sanaa halten zu können. In Aden weht nur noch die Fahne der Sezessionsbewegung, die sinnbildlich für das Unabhängigkeitsstreben der Südjemeniten vom Norden steht.

 

In Abyan und Shabwa treiben sich bis heute Kämpfer Ansar al-Scharias – einer militanten Al-Qaida Gruppe – herum und das Delta Abyan ist menschenleer, da die Bevölkerung vor den Kämpfen zwischen Ansar al-Scharia und dem jemenitischen Militär sowie vor den US- und saudischen Luftangriffen floh. Heute wird im Südjemen Angst und Schrecken durch explodierende Autobomben oder durch Angriffe bewaffneter Männer verbreitet.

 

Seit 2007/8 war Abyan ein sehr starkes Protestzentrum der »Bewegung des Südens«, die für ein unabhängiges Südarabien, Rechtsstaatlichkeit sowie Ende der Korruption und gegen das brutale Vorgehen von jemenitischen Sicherheitskräften bei Protesten demonstrierte. Als sich im Zuge des Arabischen Frühlings die Auseinandersetzungen zwischen dem Pro- und Anti-Regimegruppen in der Hauptstadt Sanaa intensivierten, wurden Sicherheitskräfte aus Abyan abgezogen.

 

Es stellt sich die Frage, warum im Zuge des Arabischen Frühlings gerade hier die Sicherheitskräfte abgezogen wurden und wieso hier ein so enormes Machtvakuum entstehen konnte. Ob das Regime in Sanaa vorsätzlich oder aus Notwehr handelte, da man der Proteste in Sanaa nicht mehr Herr wurde, bleibt Spekulation.

 

Der Verdacht, dass sich Al-Qaida-Kämpfer in Abyan befänden, bestätigte sich mit der Übernahme der Provinzhauptstadt Zinjibar durch Ansar al-Scharia im Mai 2011. Die jemenitischen Sicherheitskräfte hätten ihre Waffen zurückgelassen, die sich die islamistischen Kämpfer aneigneten. Die Bevölkerung flüchtete in die 50 Kilometer entfernte Stadt Aden.

 

Mittlerweile leben mehr als 100.000 Binnenflüchtlinge in Aden

 

Im September 2011 wurde die Nachbarstadt Jaar, das einstige Verwaltungszentrum Abyans, ebenfalls von den Kämpfern der Ansar al-Scharia eingenommen und zu ihrem Verwaltungssitz erklärt. Diejenigen, die noch nicht im Mai aus Jaar flohen, packten nun endgültig ihr Hab und Gut zusammen und flüchteten ebenfalls nach Aden. Mittlerweile leben mehr als 100.000 Binnenflüchtlinge in der Stadt. Am 12. Juni 2012 wurde plötzlich bekannt gegeben, dass Al-Qaida aus Jaar vertrieben worden sei.

 

Das jemenitische Militär feierte seinen Erfolg und verkündete offiziell, die Terroristen durch eine »großartige Offensive in die Flucht geschlagen« zu haben. Menschen vor Ort berichteten allerdings, am Tag des Abzugs Al-Qaidas keine Kämpfe wahrgenommen zu haben. Ansar al-Scharia sei freiwillig mit Autos, Waffen, Frauen und Kindern Richtung Osten abgezogen.

 

Die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung haben sich seitdem ausgebreitet – auf andere südjemenitische Ortschaften und auf Anhänger der Sezessionsbewegung in Aden. Da der Staat, auch nach dem Abzug, nicht mehr in der Lage ist, in der Region für Schutz und Ordnung zu sorgen, wurden Volkskomitees – bewaffnete Milizen, bestehend aus jungen Männern der Dörfer in Abyan – gegründet, die in der Region patrouillieren und die Dörfer gegen Al-Qaida schützen. Ansar al-Scharia versuchte in verschiedene Lebensbereiche vorzudringen und eine Parallelverwaltung einzurichten.

 

So bestimmten die Islamisten etwa einen Verantwortlichen für das Schulwesen im Emirat. »Es wurden drei statt der bisherigen zwei Schulzeiten eingerichtet, weil Frauen nicht mehr die Jungen ab einem bestimmten Alter unterrichten durften. Erst wurden die kleinen Jungen am Vormittag, dann die älteren Jungen und am Nachmittag die Mädchen unterrichtet.

 

Auch Inhalte aus den Lehrbüchern wurden gestrichen. Die Geheimdienste der Ansar al-Scharia kontrollierten die Umsetzung«, berichtet die Dorflehrerin Samira über die Al-Qaida-Herrschaft an den Schulen. »Doch es fehlten genügend männliche Lehrer im Dorf. Sie haben dann irgendwelche Männer genommen, die nicht die nötige Ausbildung hatten und die Kinder geschlagen haben.« Das Gehalt der Lehrer wurde jedoch weiterhin vom jemenitischen Staat gezahlt, welches die Beamten nun nicht mehr in Jaar, sondern in Aden abholen mussten.

 

Die Bevölkerung Abyans fürchtet die US-Drohnenangriffe mehr als die Gräueltaten Al-Qaidas

 

Während der Herrschaft Al-Qaidas über das Delta Abyan wurden zweimal wöchentlich Filme mit den »Heldentaten« der Al-Qaida-Kämpfer in den Dörfern vorgeführt: Videos, in denen Soldaten die Kehlen durchgeschnitten wurden oder der Kopf abgetrennt wurde. Damit sollte einerseits Angst und Schrecken verbreitet werden, andererseits galten die Filmvorführungen als Rekrutierungsveranstaltungen.

 

Mit entlarvten Spionen gingen sie ebenfalls nicht zimperlich um. In der Nähe eines Dorfes östlich von Jaar wurde ein Auto von einer US-Drohne bombardiert. Bei dem Angriff kamen mehrere Al-Qaida-Kämpfer ums Leben. Anschließend wurde ein saudischer Kämpfer Ansar al-Scharias von seinen Kumpanen gekreuzigt, da er als amerikanischer Spion entlarvt worden sei und für die Bombardierung des Autos verantwortlich gemacht wurde.

 

Doch während der monatelangen Belagerung Jaars durch Al-Qaida ging der größte Schrecken nicht von den Kämpfern selbst aus. Al-Qaida ließ die Zivilisten in Abyan relativ unbehelligt, weil man die Menschen für die Interessen der Gruppierung gewinnen wollte. »Das Leben war okay. Niemand klaute mehr, weil sie bei Diebstahl gleich die Hand abhackten.

 

Nicht Ansar al-Scharia, sondern die Armee und die Drohnen haben alles zerstört«, erinnert sich Einwohnerin Ghada, Lehrerin aus Abyan. Das US-amerikanische Militär muss sich die Frage gefallen lassen, warum zahlreiche zivile Einrichtungen wie das nahe Jaar gelegene Zentralkrankenhaus Abyans und Schulen zerstört und Zivilisten durch die für ihre Präzision gepriesenen Drohnen getötet wurden.

 

Innerhalb von drei Tagen wurden mehrere Angriffe auf das Krankenhaus geflogen. Die Bevölkerung Abyans fürchtet die US-Drohnenangriffe mehr als die Gräueltaten Al-Qaidas, denen man bei »gutem islamischem Verhalten« entgehen konnte. Eine Abspaltung des Südens löst Ängste beim nordjemenitischen Regime aus, da der Großteil der Ölvorkommen im Süden des Landes liegt.

 

Die Anwesenheit Al-Qaidas im Südjemen spielt den nordjemenitischen Eliten somit in die Hände: Als sich der Afghanistanveteran Tareq al-Fadhli 2009 zur »Bewegung des Südens« bekannte, bot dies Sanaa den willkommenen Anlass, die säkulare Bewegung mit Al-Qaida in Verbindung zu bringen. Abyan liegt zudem nur 50 Kilometer von der Hafenstadt Aden, dem Herzen der Sezessionsbewegung, entfernt.

 

Eine Einnahme der Stadt, nicht weit vom Bab al-Mandab, der Meerenge zwischen dem Roten Meer und dem Indischen Ozean entfernt, durch die Al-Qaida-Kämpfer könnte der Gruppierung neue internationale Aufmerksamkeit verschaffen und die Bestrebungen der »Bewegung des Südens« endgültig zunichtemachen.

 

Vom Chemiestudent zum Al-Qaida-Terrorist

 

Im Südjemen ist daher die Meinung weit verbreitet, dass die Eliten des Nordens Al-Qaida im Jemen überhaupt erst erschaffen hätten. Die Separatisten stellen zwar eine Gefahr für die Souveränität des nordjemenitischen Regimes dar, jedoch erklärt dies noch nicht, wie Al-Qaida schließlich in der Region Fuß fassen konnte. »Die Leute in Jaar sind selbst schuld, dass Ansar al-Scharia gekommen ist, schließlich haben sie sie dort aufgenommen und sich ihnen teilweise angeschlossen«, urteilt Ghada. Die »Baltajiya« – eine Art Schlägertruppe – wird für das Eindringen von Al-Qaida verantwortlich gemacht.

 

Abdullatif al-Sayid, heute Anführer der Volkskomitees in Abyan, bekannte sich einst als Al-Qaida-Anhänger, vor kurzem wurde er durch einen Selbstmordattentäter schwer verletzt. Der Jemen hat mit einer Jugendarbeitslosenquote von über 50 Prozent zu kämpfen. Jugendliche können angesichts der desolaten wirtschaftlichen und politischen Lage im Jemen nur unter schwierigsten Bedingungen ihren sozialen Status als anerkannte Erwachsene heben.

 

Auch Jalal Bilaidi – von Ansar al-Scharia zum »Emir von Zinjibar« gekrönt – ist einer von ihnen. Er studierte Chemie auf Lehramt an der Fakultät von Zinjibar. Wie so viele andere erhielt er nach seinem Studium keine Anstellung als Lehrer. Heute macht er Karriere bei Al-Qaida. Die Anti-Regimeproteste Anfang 2011 waren nur ein Ventil, Unzufriedenheit zu äußern.

 

Vielen jungen Menschen könnte mittlerweile das friedliche Protestieren, ob auf dem Universitäts-Platz in Sanaa oder innerhalb der Sezessionsbewegung in Aden, zu langwierig erscheinen. Ansar al-Sharia bietet einen zweiten Weg, sich mit Waffen und Gewalt Gehör zu verschaffen. Auch der bereits erwähnte Tareq al-Fadhli dürfte eine zentrale Rolle bei der Ansiedlung Al-Qaidas in Abyan gespielt haben.

 

Fadhli ist der Sohn des ehemaligen Sultans von Abyan, der mit der Machtübernahme der Marxisten im Jahr 1967 den Südjemen verlassen musste. Tareq al-Fadhli ging in den 1980er Jahren als »Mujahid« nach Afghanistan und kehrte nach der jemenitischen Wiedervereinigung 1990 in den Jemen zurück. Dem Saleh-Regime dienten die zurückgekommenen Afghanistan-Veteranen in den 1990er Jahren als nützliche Verstärkung gegen unliebsame Gruppen im Land, wie die Marxisten im Süden und die zaiditischen Houthis in Saada.

 

Fadhli wurde Teil des Regimes, seine Schwester etwa wurde mit dem einflussreichen General Ali Mohsin verheiratet. 2009 bekannte sich al-Fadhli zur »Bewegung des Südens« – zum Missfallen der Lokalbevölkerung, die ihm wegen seiner Familiengeschichte nicht traute und weil er eine gewalttätige Komponente in die friedliche Bewegung hineintrug.

 

Nach der Machtübernahme Al-Qaidas 2011 schloss sich Fadhli wieder den Terroristen an. Seine Söhne kämpften ebenfalls gegen das jemenitische Militär, einer kam dabei ums Leben. Inwieweit er aber wirklich das Eindringen der Al-Qaida-Kämpfer nach Abyan unterstützte, bleibt offen.

 

Zinjibar wird wohl eine Geisterstadt bleiben

 

Zudem ist nicht klar ersichtlich, welche Rolle der staatliche Sicherheitsapparat in Aden und Abyan spielt. Einerseits könnten Allianzen zwischen den Sicherheitskräften und Al-Qaida eingegangen worden sein. Andererseits lässt sich das Kostüm des bösen Terroristen gut gegen die Zivilbevölkerung und die Sezessionsbewegung verwenden.

 

Überdies wurden viele Angehörige der Sicherheitskräfte in Abyan vom Staat im Stich gelassen und galten gemeinsam ebenso wie die Armee als erste Zielscheibe der Terroristen. Die Bevölkerung hingegen will einige von ihnen als frühere Al-Qaida-Kämpfer identifiziert haben, die heute wieder in ihrer Berufsbekleidung in Abyan patrouillieren. Immer noch sind Al-Qaida-Kämpfer in der Region präsent und suchen zuweilen Unterschlupf in den Dörfern.

 

Die Bevölkerung gerät so in eine fatale Zwickmühle, die eine junge Frau, die mit ihrem Mann und Kind aus Zinjibar in ihr Heimatdorf flüchten musste, sarkastisch auf den Punkt bringt: »Wenn wir Pech haben, dann wird ein jemenitisches Flugzeug kommen und das ganze Dorf vernichten, ein saudisches wird das halbe Dorf zerstören und wenn wir Glück haben, dann kommt eine amerikanische Drohne, dann wird nur das Haus, in dem die Al-Qaida-Kämpfer vermutet wurden, zerstört.«

 

Abyan wies einst im Vergleich zu vielen anderen jemenitischen Provinzen eine relativ gut ausgebaute Infrastruktur auf und beherbergte etwa in Zinjibar auch eine Außenstelle der Universität Aden. Die Fakultät ist heute völlig vermint und zerstört. Wo werden die Studenten weiter lernen können? Was passiert mit den zerstörten Schulen? Zinjibar hat heute weder Strom noch fließendes Wasser.

 

Ob eine Rückkehr in die Stadt und in die umliegenden Dörfer überhaupt jemals wieder möglich sein wird, bleibt fraglich, da die Finanzierung des Wiederaufbaus bisher nicht gesichert ist. Auf lange Sicht wird Zinjibar eine Geisterstadt bleiben – und das trifft wohl auf weite Teile des Delta Abyans zu.

Von: 
Anne-Linda Amira Augustin

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.