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Parteien vor den Parlamentswahlen in Israel

Schluss mit der Hysterie!

Kommentar

Das rechte Bündnis für die Parlamentswahlen in Israel verschreckt viele Beobachter. Doch ein Blick auf das gesamte politische Spektrum und die sich verändernde Gesellschaft zeigt, dass die Aufregung übertrieben ist, meint Dominik Peters.

Israel, um Himmels Willen, Israel: Dieser Ausspruch Ralph Giordanos wird in diesen Tagen vielerorts wiederholt, seit der konservative Likud unter Benjamin Netanjahu bekannt gegeben hat, dass man bei den vorgezogenen Wahlen im Januar kommenden Jahres auf einer gemeinsam Wahlliste mit der nationalistischen Israel Beitenu Avigdor Lieberman antreten werde. Diese Hysterie ist vollkommen übertrieben.

 

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Gemeinsame Wahllisten sind in Israel üblich. Der linke David Ben-Gurion hat es ebenso wie der rechte Menachem Begin vorgemacht.

 

Außerdem: Die von Benjamin Netanjahu forcierte Fusion scheint bis dato indes keine wirklichen Auswirkungen auf das Wählerverhalten zu haben, sämtliche Umfragen sehen den Likud weiterhin bei rund 27 Mandaten, Israel Beitenu bei 15. Vielmehr, so scheint es, wurde im viel diskutierten Schachzug Netanjahus wieder einmal dessen Unsicherheit deutlich, die israelische Kommentatoren und Analysten festgestellt haben.

 

Denn: Entgegen der ausländischen Wahrnehmung gilt »Bibi« im eigenen Land als Politiker, der das Risiko scheut – und deswegen hat er sich nun Avigdor Lieberman und damit hunderttausende Stimmen russischer Einwanderer ins Boot geholt.

 

Der Tribun ist zurück: Ariyeh Deri kam, sah und siegte

 

Viel spannender indes und zudem weitaus bedeutender für die Bildung einer künftigen Regierung ist das fulminante Comeback, das Ariyeh Deri auf der politischen Bühne vor zwei Wochen gefeiert hat. Der passionierte Pfeifenraucher und wegen Korruption verurteilte Deri, dessen Beliebtheit trotz der langen Polit-Abstinenz in der israelischen Öffentlichkeit ungebrochen ist, kam, sah und siegte. Lange hieß es, das politische Wunderkind der 1990er Jahre werde eine eigene Partei gründen, vielleicht sogar mit Yair Lapid zusammen – doch nichts von alledem ist geschehen.

 

Stattdessen hat sich der Tribun der mizrachischen Massen, protegiert von Ovadia Josef, dem spiritus rector der Schas-Partei, im Handstreich zurück an die Spitze ebenjener Partei katapultiert. Zwar muss er sich die Führung mit seinem alten Widersacher, Israels Innenminister Eli Jischai, sowie Ariel Atias teilen, doch diese sind durch die Entscheidung Josef gerade düpiert worden.

 

Denn klar ist: In Israel gibt es weit und breit keinen Politiker, der es mit der rhetorischen Begabung Deris aufnehmen kann, dessen Partei nach seiner Rückkehr mit 13 und mehr Knesset-Mandaten rechnen kann.

 

Er wird, wie er das in den vergangenen 14 Tagen bereits gezeigt hat, das Gesicht und die Stimme der Schas-Partei sein – und im Falle von Sondierungsgesprächen über eine Regierungsbeteiligung unter dem potentiellen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu mit Verve und Geschick weitaus mehr für seine Wähler herausholen können, als es der blasse Parteisoldat Jischai jemals könnte; zumal Deri und Netanjahu in der Palästinenserfrage diametrale Auffassungen vertreten.

 

Yair Lapid: Ein Fernsehstar für den säkularen Mittelstand

 

Alles andere als blass und am ehesten dazu befähigt, Ariyeh Deri in einem offenen Schlagabtausch Paroli bieten zu können, ist zweifelsohne Yair Lapid. Der populäre Neu-Politiker, ehemalige Kolumnist und gefragte Anchorman im israelischen Fernsehen, ist Spross des legendären Tommy Lapid, dessen Polemiken gefeiert oder gehasst und dessen analytische Schärfe und intellektuelle Brillanz vielerorts hoch geschätzt wurde.

 

Dass der neue Lapid aufgrund seiner langjährigen Journalistenkarriere beinahe jedem Israeli geläufig ist, wird seiner Partei Jesch Atid einige Bonuspunkte im Wahlkampf bringen – zumal beim säkularen Mittelstand zwischen Tel Aviv und Haifa, die mit dessen zentristisch-konservativen Ansichten mehr anfangen kann, als mit jenen der wiedererstarkten Arbeiterpartei, die derzeitigen Umfrage zufolge auf 23 Knesset-Sitze kommen könnte.

 

Trotz der steigenden Zustimmung für Shelly Yachimovich und die Ihren, bleibt die altehrwürdige Avoda jedoch abseits der sozialen Frage beinahe alle Antworten schuldig, die dem Wahlvolk unter den Nägeln brennen. Lapid indes hat – wie sein Vater seinerzeit mit der Schinui-Partei – eine beachtliche Anzahl prominenter Mitstreiter für sich gewinnen können.

 

Neben dem national-religiösen Rabbiner Shai Piron, dem ehemaligen Shin Beth-Chef Jaakov Peri sowie der einstigen Maariv-Edelfeder Ofer Shelach auch Karin Alhrar und Adi Kol. Mit dieser breit aufgestellten Mannschaft ist Lapid einiges zuzutrauen bei den kommenden Wahlen, Prognosen sehen ihn derzeit bei neun bis 13 Mandaten.

 

Für eine Regierungsbeteiligung wird dies jedoch nicht reichen, da Jesch Atid zum einen im selben Wählerresservoir wie die dahinsiechende Kadima, Atzmaut und zum Teil der Likud sowie Avoda fischt, zum anderen, weil alle Parteien, die gegen eine erneute rechts-religiös-konservative Regierung sind, heftig zerstritten sind.

 

Die ultra-orthodoxen Parteien als Black-Box

 

Nicht viel anders sieht dies indes bei der Neuen National-Religiösen Partei aus, einem Konglomerat verschiedener kleinerer Parteien, um deren Vorsitz sich am vergangenen Montag die beiden Knesset-Abgeordneten Zvulun Orlev und Naftali Bennett eine schmutzige Radiodebatte lieferten.

 

Mag diese Debatte als Randschauplatz bewertet werden, da die Partei nach einer Umfrage des israelischen Fernsehsenders Channel 2 nur fünf Knesset-Plätze erlangen wird, so darf jedoch nicht vergessen werden, dass alle genannten Parteien mit Ausnahme der Schas nur bedingt das ultra-orthodoxe Wählerlager ansprechen.

 

Dabei wird sich hier die größte Ansammlung von Wählern in den kommenden Jahren finden lassen, werden diese doch mittelfristig die Bevölkerungsmehrheit stellen. Schon in diesem Schuljahr stellen die Ultraorthodoxen bereits 52 Prozent der Mädchen und Jungen, die die Schulbank drücken, was sich in ein bis zwei Dekaden auch im politischen Diskurs bemerkbar machen wird.

 

Zwar ist mit dem Tod von Josef Shalom Eliashiv – der im biblischen Alter von 102 Jahren in diesem Jahr gestorben ist – eine Lücke entstanden, die sich nicht allzu schnell füllen wird, war der Rabbiner, dem es vor wenigen Jahren vergönnt war, die Geburt eines Enkels eines seiner Ur-Enkel noch mitzuerleben, doch eine der herausragende Autoritäten für die wiederum zersplitterten aschkenasisch-chassidischen Höfe.

 

Gleichwohl dürften sich die fünf Knesset-Plätze, die der von ihm gegründeten Partei Degel ha-Tora, die zusammen mit Agudat Jisrael die Wahlliste Vereinigtes Torah-Judentum darstellt, künftig sicherlich vervielfachen. Blickt man nun auf diese Black Box der ultra-orthodoxen Parteien, die oftmals bei der Betrachtung der israelischen Parteienlandschaft aus Unkenntnis oder fehlender Kenntnisnahme der Fakten ignoriert werden, so erscheint die taktisch motivierte Fusion des Likud und von Israel Beitenu in einem anderen Licht.

 

Ehud Olmert und Tzipi Livni als Hoffnungsträger?

 

Gewiss, man kann sich an Ministerpräsident Netanjahu und Außenminister Lieberman inhaltlich reiben, fest steht jedoch, dass die Zentrums- und Linksparteien eine Wählerschicht repräsentieren, die mehr und mehr zur Minderheit in Israel gehört, während die religiösen Wähler hingegen mehr und mehr Gewicht bekommen; einzig die prekäre Lage an sämtlichen Grenzen hält diese Gesellschaft zusammen.

 

Nach dem Prinzip »one man, one vote« ist es da doch ganz natürlich, dass der Trend hin zu mehr Konservatismus geht. Da ist es gesamtgesellschaftlich gesehen das geringste Übel, wenn es Benjamin Netanjahu schafft, auch säkular-nationalistische Parteien wie Israel Beitenu mit religiös-nationalistischen wie jenen der Neuen Nationalreligiösen Partei an einen Kabbinettstisch zu binden und Parteien wie Jesch Atid oder Avoda eine funktionierende sowie schlagkräftige Opposition darstellen.

 

Doch diese Wahrheit wird allzu oft von den Vertretern der Tel Avier Bohème und europäischer Analysten vergessen, die sich im Glanz vergangener Tage sonnen, die bis zu den Chaluzim der 1920er zurückreicht. Dass das Fundament, auf dem sie ihre Machtansprüche aufbauen, schon lange nicht mehr existiert, scheint sich noch nicht allen Ortens herumgesprochen zu haben.

 

Nur so ist es zu erklären, dass Israels Medien seit Tagen über vermeintliche Rückkehrpläne von Tzipi Livni und Ehud Olmert spekulieren, die sich hierzu noch im Laufe der Woche öffentlich äußern wollen. Die Verzweiflung muss groß sein, wurde doch Livni noch wenigen Monaten mit Schimpf und Schande aus der Kadima gejagt, hat Ehud Olmert durch seine zahlreichen Gerichtsverhandlungen eigentlich sämtlichen Vertrauenskredit verspielt.

Von: 
Dominik Peters

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