Lesezeit: 7 Minuten
Pinkwashing in Israel

Bunt statt schwarz-weiß

Analyse

Stellt Israel Homosexuelle gleich, um sie als »demografische Waffe« zu instrumentalisieren? Zwar bewirbt das Land Tel Avivs Schwulenszene als Tourismusmagnet, doch die Sexualmoral hat nur wenig mit dem Nahostkonflikt zu tun.

Tel Aviv ist die Partystadt des Nahen Ostens, die Stadt, in der die Nächte durchgefeiert werden. Besonders gefragt ist Tel Aviv bei jungen homosexuellen Männern und Frauen aus aller Welt, der Gay-Tourismus boomt in der schwulen- und lesbenfreundlichen Metropole.

 

Einerseits ist es Lifestyle und Lebensphilosophie des offenen, toleranten Tel Avivs, allerdings andererseits auch eine Tourismuskampagne der Stadt, die sich mit Gay-Sprachführern, Gay-Reiseführern und Schwulenmagazinen in Hochglanz viele Touristen verspricht. Eine Bar nach der anderen macht auf, die Infrastruktur an Organisationen, Broschüren, Zeitschriften, Bars, Cafés ist riesig.

 

Hinzu kommt die tatsächlich sehr liberale Gesetzgebung des Staates. So dienen Schwule in Israel in der Armee, sogar der Kinderwunsch wird bei homosexuellen Paaren gefördert. So ist Israel eins der wenigen Länder, in denen sich bei lesbischen Eltern beide Frauen als Mütter eintragen lassen können.

 

Und ein ganz neues Gesetz ermöglicht es schwulen Paaren ein Kind zu bekommen, mit Samen des einen Partners und der Eizelle aus der Familie des anderen Partners – der Staat finanziert den Rest. Verdächtig liberal – oder will der israelische Staat damit nur den demographischen Krieg gegen die Palästinenser mit bisher höheren Geburtenrate gewinnen?

 

»Pinkwashing« heißt der Vorwurf: Israel bereite Homosexuellen ein angstfreies Leben aus purer Berechnung – um dann nämlich mit genau diesem Argument Palästinenser zu unterdrücken. Die Unterstützung des Westens sichere sich Israel, indem es sich als westliches Land ausgebe, dass Frauen- und Schwulenrechte schützt und vom  arabischen Rest des Nahen Ostens abgrenzt – eine »Region, in der Frauen gesteinigt, Homosexuelle gehängt und Christen verfolgt werden«, so Benjamin Netanjahu.

 

So nutze Israel Kampagnen für Homosexuellenrechte und Gay-Tourismus, um sich als positives Beispiel zu inszenieren und so Palästinenser und Araber abzuwerten und an den Pranger zu stellen. Überhaupt seien ja nur einige Hotspots wie Tel Aviv schwulen- und lesbenfreundlich, in anderen Gegenden des Landes wären Homosexuelle dagegen auch bedroht.

 

Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit jüdisch-israelischer Wirklichkeit

 

Doch diese Argumentation geht an der Realität vorbei, die ja tatsächlich recht positiv für Homosexuelle aussieht. Der Staat Israel erfindet ja diese, Homosexuellen gegenüber so tolerante Lebensphilosophie nicht, sie gibt es wirklich – nicht nur als PR-Masche, um Araber als ewig gestrig und barbarisch darzustellen.

 

Sicherlich nutzt der Staat Israel die sowieso existierende aktive und kreative homosexuelle Szene, um den Tourismus zu fördern, aber dahinter eine Verschwörung mit dem Ziel, die Palästinenser zu unterdrücken, zu sehen, ist abwegig. Auch sollte die Wirkungsmächtigkeit des Staates nicht überschätzt werden.

 

Sicherlich kann ein Staat Entwicklungen fördern oder blockieren, aber eine große Schwulenszene in Tel Aviv erfinden, da überfordert man doch die Planer in der Regierung. Dass es in Tel Aviv in puncto Rechte von Homosexuellen ganz anders aussieht als in Jerusalem, erklärt sich nicht durch den Konflikt mit den Palästinensern, sondern durch die Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit jüdisch-israelischer Wirklichkeit.

 

Auf der einen Seite ist zionistisch-säkulares Denken ein Grundpfeiler der israelischen Gesellschaft und damit auch tolerantes Miteinander und eine extrem liberale Sexualmoral. Andererseits machen auch religiöse Juden bis hin zu Ultraorthodoxen einen wesentlichen Teil Israels aus, die an anderen Orten konservative Werte leben und eine antiliberale Sexualmoral verteidigen. Diesen Widerspruch muss man nicht mit »Pinkwashing« auflösen, man sollte ihn einfach als solchen stehen lassen, als zwei Seiten einer extrem vielschichtigen Gesellschaft.

Von: 
Victoria Tiemeier

Banner ausblenden

Die neue zenith 02/2022 ist da: Reise zum Mittelpunkt der Erde

Reise zum Mittelpunkt der Erde

Die neue zenith ist da: mit einem großen Dossier zur Region Persischer Golf und überraschenden Entdeckungen. Von Archäologe über Weltpolitik und Wattenmeer zu E-Sports und großem Kino.

Banner ausblenden

Newsletter 2

Der heiße Draht

Frische Analysen, neue Podcast-Folgen, exklusive Einladungen zu Hintergrundgesprächen und Werkstattberichte: Jeden Donnerstag erhalten tausende Abonnenten den zenith-Newsletter. Sie  wollen auch auf dem Laufenden bleiben? Dann melden Sie sich hier kostenlos an.

Banner ausblenden

WM Katar

So eine WM gab es noch nie

Auf 152 Seiten knöpfen sich Robert Chatterjee und Leo Wigger alle wichtigen Fragen rund um die erste Fußball-WM in einem arabischen Land vor.