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Platz der Utopie

Platz der Utopie

Feature

Vor fast einem Jahr begannen die Völker Arabiens, ihre Herrscher aus den Palästen zu vertreiben. Viele erhofften sich Besserung der Menschenrechtslage und wurden bis jetzt enttäuscht – außer die schwul-lesbische Szene.

Der Tahrir ist der Nollendorfplatz, die Christopher Street Ägyptens, aber dazu später mehr. Der Tahrir-Platz ist vor allem der Ort des Arabischen Frühlings. Oder der Ort, in dem die internationalen Medien den Arabischen Frühling vermuten. Hier, im Herzen des wichtigsten arabischen Landes, versammelten sich Millionen Ägypter und Ägypterinnen und jagten ihren Diktator aus seinem Regierungspalast und sperrten ihn in einen kleinen Käfig vor Gericht. Hier versammeln sich fast wöchentlich immer noch Hunderttausende um »die Ziele der Revolution zu wahren«. Der Tahrir ist zu einer utopischen Sphäre geworden, hier ist alles möglich.

 

Bauern neben Webdesignern, Studierende neben Analphabeten, Frauen neben Männer, Kopten neben Muslimen, Kinder neben Greisen: Seit an Seit demonstrieren alle für ein besseres Ägypten, für eine bessere Zukunft. Und hier findet man sie auch: Schwule und Lesben, Transsexuelle und Queer-People. »Seit dem ersten Tag der Revolution bin ich auf dem Tahrir, ich demonstriere, organisiere und helfe anderen Aktivisten bei ihrer Arbeit«, sagt Nabil. Der Mittzwanziger möchte und muss anonym bleiben, aus Sicherheitsgründen kann er nicht mit seinem echten Namen genannt werden. Die schwul-lesbische Menschenrechtsorganisation, für die er arbeitet, existiert offiziell für einen anderen Zweck. Diese Vorsicht hat einen millionenfachen Grund: die meisten Ägypter akzeptieren Homosexualität nicht, einige davon würden ihre Ansichten auch mit Gewalt durchsetzen.

Nabil ist junger Student: gleichmäßig hellbraune Hautfarbe, aufwändig gegelte Haare, große Hornbrille, tiefer T-Shirt-V-Ausschnitt. Er sieht so wie Millionen andere Ägypter aus. Aber Nabil ist schwul, queer-feministisch und Aktivist für die Gleichberechtigung von Frau und Mann, Homo-, Trans- und Heterosexuellen. »Beim Sturz des Diktators und bis heute sind so viele Queer-Aktivisten da draußen gewesen, sie waren aber in erster Linie nicht homosexuell, sie waren Ägypter«, erklärt Nabil, der auf den vielen Höhepunkten der Proteste tagelang auf dem Tahrir ausharrte. Nur läuft nicht alles so, wie es sich die Protestbewegung vorstellt.

 

»Ich werde direkt in die Hölle fahren«

 

Vor allem schwule Männer haben es in Ägypten nicht leicht. Die Gesellschaft am Nil ist dermaßen patriarchalisch dominiert, dass Homosexualität nicht nur ein Tabu ist, sondern schlicht nicht existieren kann. Homosexualität ist derart verhasst, dass die größten Menschenrechtsorganisationen des Landes sich schon früh gegen die Rechte von Homosexuellen entschieden haben. Auf diesem Gebiet unternehmen sie schlicht nichts: »Wir lassen die Homosexuellen hängen, weil wir kein Mandat vom Volk besitzen, um deren Rechte zu verteidigen«, sagt Hisham Kassem, ehemaliger Direktor der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte und heutiger Vorsitzender der Al-Ghad-Partei, eine der vielen liberalen Parteien, die nach der Revolution gegründet wurden.

 

Mohammed möchte und muss ebenfalls anonym bleiben. Mohammed ist auch schwul, Muslim, sogar ehemaliges Mitglied der Muslimbruderschaft. »Du kannst nur überleben, wenn du hetero bist«, sagt er, »ich habe versucht, meinen Glauben mit meiner sexuellen Orientierung zu vereinbaren.« So hat er sich zuerst gezwungen, Frauen »zu mögen«, nachdem dies aber nicht klappte, verließ er die Muslimbruderschaft: »Ich konnte es nicht mehr aushalten, am Tage zu beten und abends Männer zum Sex zu treffen.«

 

Es geht hier nicht um den Islam, es geht hier mehr um eine gesellschaftliche Prioritätensetzung und unter konservativen Muslimen ist Homosexualität eine Todessünde, so denken aber auch viele andere Ägypter. »Irgendwann glaubst du ihnen: ich werde direkt in die Hölle fahren«, sagt Mohammed. Dabei ist Homosexualität keine öffentliche Angelegenheit. Eine Beziehung zu einem Mann kann Mann nur im Verborgenen führen. Treffen – über Internet und Mundpropaganda organisiert – sorgen für sexuelle Abwechslung. »In Kairo sind der Tahrir-Platz und das Maryland in Heliopolis die zwei berühmtesten Treffpunkte der Szene«, erzählt Mohammed. Deswegen ist vor allem der eigentlich trist zubetonierte und von Autobahnbrücken eingekesselte Tahrir-Platz ein besonderes Symbol für schwule Aktivisten.

 

Nabil nerven vor allem »Hetero-Schwule«, die mit Männern schlafen wollen, sich aber – um sich zu assimilieren – bewusst die üblichen Macho-Attitüden an den Tag legen: »Weil ich mich mit meiner Art auch irgendwie oute, ist meine bloße Anwesenheit auf dem Tahrir ein politisches Statement«, sagt Nabil. Nur ein Beispiel, das die Situation von Schwulen in Ägypten besonders kompliziert erscheinen lässt.

 

Lesben gibt es in Ägypten aber auch. Lesben haben jedoch keinen Treffpunkt, sie leben komplett im Untergrund, heiraten irgendwann und müssen bis an ihr Lebensende an der Seite eines Mannes ausharren. Frauen haben es ohnehin schwerer, sie dürfen im Normalfall nicht selbstständig ihr Leben gestalten, davon werden Lesben nicht verschont. In anonymen Blogs kann man dieses Lebensgefühl nachvollziehen, zum Beispiel im »Tagebuch einer Lesben«. Dort dichtet die Bloggerin, wie sie sich in eine Frau auf dem Tahrir verliebt: »Sie hält ein Schild mit ›Mubarak verschwinde‹ hoch und ich habe mich direkt in ihre braunen Augen verknallt.« Aus der Liebe wurde aber nichts: kategorisch verboten.

 

Es geht hier um mehr

 

Rasha Moumneh ist Expertin für die Rechte wegen ihrer sexuellen Orientierung Diskriminierter im arabischsprachigen Raum und arbeitet für Human Rights Watch in Beirut: »Sehr viele Journalisten haben mich angerufen und wollten wissen, ob jetzt die Homoehe in Tunesien und Ägypten zugelassen wird«, erklärt Moumneh, »Die Antwort lautet: Nein!« Wer sich mit den Protesten gegen die verkrusteten, teilweise vom Westen unterstützten Regime zwischen Marokko und Bahrain näher angeschaut hat, versteht, dass es hier um mehr geht: »Wir haben andere Probleme«.

 

»Bei den Revolutionen ging und geht es auf jeden Fall nicht um die Rechte Homosexueller, es geht darum, Systeme zu stürzen, die Menschen noch nicht mal das Recht auf Leben einräumen«, sagt Moumneh. Auf dem Tahrir gab und gibt es somit kein Geschlecht, keine sexuelle Orientierung, keine spezifische Herkunft, keine Berufsstände. Alles Nebensache im utopischen Raum, den sich die Demonstranten zwischen den Zelten eingerichtet haben, wenn diese nicht wieder abgerissen werden.

 

Dennoch: »In Tunesien beobachten wir nach dem Umsturz sehr vorsichtige Reformbewegungen und diese lassen hoffen«, erklärt Moumneh trotz Wahlsieg der Nahda-Partei, vielleicht wird sie auch deswegen wieder vorsichtiger in ihrer Formulierung: »Bei den Protesten ging es nie und wird es in naher Zukunft auch nicht um die speziellen Rechte von Schwulen und Lesben gehen.«

 

Und daher wurden Schwule, Lesben, Transsexuelle und Queer-People auch nicht vom Arabischen Frühling enttäuscht. Sie hatten sowieso keine Erwartungen und haben ihre Partikularinteressen schon früh während der Revolution für andere Prioritäten ganz hinten angestellt. »Solange wir nichts fordern, sind wir immerhin auf der sicheren Seite«, resümiert Nabil.

Von: 
Mohamed Amjahid

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